I1I. Kapitel: Mittelalter,
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Roger Bacos, auf dem Wege des Experiments in die Erforschung der
Naturerscheinungen einzudringen. Das vielseitigste Genie jener Zeit ist
jedenfalls Lionardo da Vinci, der, gleich groß als Maler, Bildhauer, Mathe-
matiker wie Physiker, sowohl in körperlicher Kraft und Gewandtheit
wie in der Ausbildung seiner künstlerischen und intellektuellen Fähig-
keiten als das Prototyp eines Mannes der Renaissancezeit angesehen
werden kann. Wie klar er erkannt hatte, daß die Erfahrung der eigentliche
„Interpret der Wunderwerke der Natur‘ ist, beweisen seine Aussprüche
über das Experiment. Den im Autoritätsglauben befangenen Zunft-
gelehrten seiner Zeit ruft er zu: „Wer sich auf die Autorität beruft, ver-
wendet nicht seinen Geist, sondern sein Gedächtnis!“ ‚,Das Experiment
irrt nie, sondern nur eure Urteile.‘ „Wenngleich die Natur mit der Ursache
beginnt und mit dem Experiment aufhört, so müssen wir doch den ent-
gegengesetzten. Weg verfolgen, d. h. wir beginnen mit dem Experiment
und müssen mit diesem die Ursache erforschen.‘‘28)
Bei solchen wissenschaftlichen Anschauungen dürfen wir uns nicht
wundern, daß er zuerst mit der aristotelischen Ansicht bricht, daß die
Bewegung eine natürliche Eigenschaft der Körper ist. Seine Auffassung
von Kraft und Bewegung klingt schon an die heutige Erklärungsweise
dieser Grundbegriffe an. Freilich blieb auch er noch in dem aristotelischen
Irrtum befangen, daß schwerere Körper schneller fallen als leichtere, allein
dies hinderte ihn doch nicht, bei seinen Versuchen über den Fall die Tat-
sache festzustellen, daß ein fallender Körper östlich von der Vertikallinie
den Erdboden erreicht. In seinen Untersuchungen über das Hebelgesetz,
auf. das er auch die Wirkungsweise der Rolle und des Wellrades zurück-
führt, finden wir den Begriff des statischen Momentes zum ersten Male
aufgestellt, ja sogar das Prinzip der virtuellen Geschwindigkeiten als für
alle einfachen Maschinen gültig ausgesprochen. Ebenso finden sich in
seinen Schriften über die Probleme der Mechanik, die er als das Paradies
der mathematischen Wissenschaften bezeichnet, die ersten Keime des
Trägheits- und des Energiegesetzes. Leider blieben diese Entdeckungen
auf dem Gebiet der Mechanik, durch die er dem Galilei vorarbeitete, ohne
nachhaltigen Einfluß, ja bis zum Ende des 18. Jahrhunderts fast gänz-
lich unbekannt.?) In Berührung mit Nicolaus Cusanus standen die
beiden bedeutendsten deutschen Mathematiker des 15. Jahrhunderts,
Georg Peurbach (1423—1461) und sein Schüler Johannes Müller aus
Königsberg in Franken, bekannt unter dem Namen Regiomontanus (1436
bis 1476). Beide waren eifrige Humanisten; der erstgenannte hielt als
Professor der Mathematik und der Astronomie an der Wiener Universität ®)
auch philologische Vorlesungen, und die Historiker der Altertumswissen-
schaft rühmen sogar seine Verdienste um die Belebung der klassischen
Studien in Deutschland. Jedoch dienten ihm seine philologischen Studien