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I. Abschnitt: Altertum und Mittelalter.
der Kirche brauchbare Diener zu liefern, fremd gegenüber. Die klöster-
lichen Bildungsanstalten des Mittelalters verfolgen nicht ein humanes,
sondern ein klerikales Ziel, und nur insoweit die Mathematik und die
Naturwissenschaften für die Erreichung dieses Zieles notwendig, für das
Zeistliche Amt erforderlich sind, finden diese Disziplinen. in ihnen Be-
rücksichtigung. Nun verlangte schon der heilige Augustinus, daß in jedem
Mönchs- oder Nonnenkloster doch wenigstens einer vorhanden sein müsse,
der imstande sei, die kirchlichen Festtage zu berechnen, und das Kapitulare
Karls des Großen vom Jahre 789 verlangte von jedem Geistlichen die
Fähigkeit, die Feste der Kirche ohne fremde Hilfe im voraus zu berechnen.
Diese Berechnung, Computus paschalis oder Computus ecclesiasticus
genannt, erforderte ein nicht unbeträchtliches Maß mathematischer
Kenntnisse, außer dem Rechnen Bekanntschaft mit der Bestimmung
der Zeit nach Sonne und Mond, mit dem Laufe der Planeten, mit dem
Mondzyklus, dem Sonnenzyklus, den Epakten, mit den Äquinoktien und
Solstitien, mit der Zeitrechnung bei den Römern, Griechen und Hebräern,
mit der Ära des Nabupolassar, mit der goldenen Zahl und der Römer-
zinszahl, ohne die eine Berechnung des Osterdatums nach der damaligen
Methode nicht ausgeführt werden konnte. Somit war den Klosterschulen
die Pflege gewisser mathematischer Disziplinen, des Rechnens, der Geo-
metrie und der Astronomie durch ihre eigene Aufgabe direkt vorgeschrieben.
Anders steht es dagegen mit den Naturwissenschaften. Die Beschäftigung
mit ihnen konnte zu leicht zu Zweifeln an Glaubenssätzen und damit zur
Untergrabung der kirchlichen Autorität führen, daher können wir von
vornherein erwarten, daß die Naturwissenschaften in den Klosterschulen
keine solche Berücksichtigung gefunden haben, wie die Mathematik.
Tatsächlich wurde sogar durch die Beschlüsse der Kirchenversammlungen
von Tours (1163) und Paris (1209) den Mönchen das Lesen physikalischer
Schriften als sündhaft verboten. Allein gerade diese Verbote beweisen,
daß auch die Naturwissenschaften in den Klöstern sich eines regen Interesses
erfreut haben, daß die Autorität der Kirche wissenschaftliches Streben
und Forschen nicht unterdrücken konnte, das klerikale Ziel der Kloster-
schulen den der menschlichen Natur angeborenen Trieb nach Erkenntnis
nicht zu ersticken vermochte. Mit Recht bemerkt S. Günther über die
Lehrer an den mittelalterlichen Klöstern:®%) „Man müßte die mensch-
liche Natur verkennen, wollte man sich dem Glauben hingeben, daß hunderte
von wißbegierigen und in den glücklichen Verhältnissen der klösterlichen
Muße lebende Männer nicht auch sachlich Teilnahme für die Dinge
hätten empfinden sollen, die sie Tag für Tag der Jugend mitzuteilen be-
auftragt waren.‘ Die menschliche Natur forderte ihr Recht dem kirch-
lichen Zwange zum Trotz, und so finden des Verbotes ungeachtet auch
die Naturwissenschaften an den Klosterschulen einige Pflege.