Full text: Geschichte des naturwissenschaftlichen und mathematischen Unterrichts (1. Band)

IV. Kapitel: Unterricht im Mittelalter. 71 
aber die Bruchrechnung, wobei man immer noch die Sexagesimalbrüche 
als minutiae physicae von den gewöhnlichen Brüchen, minutiae schlechthin, 
unterschied. 
Um jedoch keine falschen Vorstellungen über den Umfang der mathe- 
matischen Vorlesungen an der Artistenfakultät aufkommen zu lassen, 
muß hinzugefügt werden, daß die hier besprochenen Vorlesungen durchaus 
nicht jahraus jahrein stattfanden, oft wurden nur zwei oder drei derselben 
gelesen, so daß wir alle Jahre ein wechselndes Programm haben. Weitaus 
die meisten deutschen Universitäten blieben in der Pflege des Quadriviums 
noch hinter dem Rahmen des in Prag Gebotenen zurück, Über ihn hinaus 
ging nur Wien gelegentlich, wo die Mathematik im 15. Jahrhundert eine 
besondere Pflegestätte fand. Als neue, nur in Wien gebotene Vorlesungen 
sind besonders zwei zu nennen: proportiones und latitudines formarum. 
Was man damals unter einer Proportion verstand, deckt sich jedoch nicht 
mit dem heutigen Begriff derselben. Man bezeichnete mit proportio das, 
was wir Verhältnis nennen, und legte den Vorlesungen des Bradwardinus 
„tractatus de proportionibus‘“ zugrunde. Wichtiger als diese sind die lati- 
tudines formarum, eine Art von Koordinatengeometrie, die von Oresme 
begründet 3%) wurde, dessen Schrift hierüber den Vortragenden auch als 
Grundlage diente. Die latitudo entspricht unserem Begriff Ordinate, die 
longitudo der Abscisse, und wir begegnen somit in dieser Schöpfung Oresmes, 
einer im Mittelalter neuentstandenen Disziplin des Quadriviums, den ersten 
Anfängen des Funktionsbegriffs und einer graphischen Darstellung von 
Funktionen, den ersten Andeutungen der analytischen Geometrie. 
Auch in Wien bietet das Vorlesungsverzeichnis ein von Jahr zu Jahr 
wechselndes Bild, das als regelmäßigen Bestand die sphaera, die Elemente 
des Euklid (meist nur das 1. Buch) und den Algorithmus aufweist. Außer- 
dem begegnen wir noch astrologischen Vorlesungen (über Alkabitius), einem 
Computus physicus, unter dem wir ein Rechnen mit Sexagesimalbrüchen, 
und einem Algorismus de minutiis = der gewöhnlichen Bruchrechnung. 
So kurz die hier gegebene Übersicht über die Pflege der Mathematik 
an den Artistenfakultäten des Mittelalters ist, so ist doch ein energischer 
Fortschritt gegenüber den Klosterschulen ohne weiteres daraus ersichtlich, 
ein Fortschritt, der sich nicht nur in einer Erweiterung des Umfangs, 
sondern auch in einer Vertiefung bemerkbar macht. Allgemein galten die 
Vorlesungen über die Disziplinen des Quadriviums als die schwersten, 
wurden daher nicht so zahlreich besucht, und dies mag wohl mit die Ur- 
sache gewesen sein, weshalb die Professoren und Magister der Leipziger 
Universität sich weigerten, mathematische Vorlesungen zu halten, wenn 
ihnen nicht ein Extrahonorar bewilligt wurde. In der Bewilligung eines 
solchen prägt sich auch die Bedeutung aus, die man der Mathematik damals 
beimaß: noch mehr macht sich die wachsende Bedeutung dieser Wissenschaft
	        
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