11. ABSCHNITT.
Das sechzehnte Jahrhundert.
Il. Kapitel.
Wissenschaftliches Leben im Jahrhundert der Reformation.
O Jahrhundert! O Wissenschaften! Es ist eine Freude
zu leben. Es blühen die Studien, die Geister regen sich.
Hutten.
Um 1500 steht das wissenschaftliche Leben Europas unbestritten unter
der Herrschaft des Humanismus, Das Wesen dieser Geistesrichtung zu
kennzeichnen, reicht es nicht aus, auf das Wiederaufleben der klassischen
Studien hinzuweisen. Die Beschäftigung mit der Sprache und den sprach-
lichen Schätzen des klassischen Altertums ist nur eine der Erscheinungs-
formen des Humanismus, dessen Bedeutung damit nicht erschöpft ist. Er
ist vielmehr als die Abkehr von der klösterlich asketischen Lebensauffassung
und der in einem unfruchtbaren Wortstreit sich verzehrenden Schul-
philosophie des Mittelalters und eine Rückkehr zu freudiger Lebens-
bejahung und zum freien Gebrauche der Denkkraft des menschlichen Gei-
stes aufzufassen. Die Menschheit des Abendlandes ist sich ihres Menschen-
tums bewußt geworden, beginnt ein edles, freies Menschentum zu schätzen.
Ihr Gesichtskreis hat sich erweitert, beginnt die ganze Erde zu umspannen
ınd sie als den dem Menschen als Wohnsitz zugewiesenen Teil des Weltalls
zu betrachten. Wie ein Kind, das eben selbständig zu gehen gelernt hat,
mit seinen neugierig forschenden Kinderaugen in allen Wohnräumen Um-
schau hält, so dringt der Europäer zu den Ländern im fernsten Osten und
Westen vor, und die neue Welt, die sich dem Abendlande erschloß, reizte
zu immer größeren und kühneren Entdeckungsreisen. Zweimal ward noch
im 16. Jahrhundert die Welt umsegelt, 1520—1522 von Magelhäes, 1577
bis 1580 von Francis Drake. Das Mittelmeer ward zur Binnensee, das Welt-
meer wurde die wogende Heerstraße des Handels, und damit begann die
Bedeutung der am offenen Weltmeer liegenden Länder zu wachsen. Der
Schwerpunkt der wirtschaftlichen Entwicklung verschob sich allmählich
von Italien nach Norden, und der Humanismus folgte dem Wege des wirt-
schaftlichen Aufschwungs. In Italien entstanden, nahm er seinen Weg
über die Alpen, und zu Anfang des 16. Jahrhunderts hatten deutsche