Vorschläge zur Behandlung der Oberstufe. 321
wäre verfehlt, das ganze Gebiet der unorganischen Chemie nach den
Grundlagen des Systems zu durchforschen: teils fehlt die Zeit, teils das
wissenschaftliche Interesse der Schüler, teils auch ihr Können. Die Grup-
pen des Sauerstoffs, der Halogene und des Stickstoffs sind bei weitem hin-
reichende Beispiele, auf Grund deren verallgemeinert werden kann. An
der Stickstoffgruppe wird dabei der abschließende Beweis für die Richtig-
Keit der Untersuchungen geliefert, während alle übrigen Elemente auf
Grund der nunmehr gegebenen Stellung im System untersucht werden.
Sauerstoff und Schwefel reichen noch nicht aus, die Sauerstoffgruppe
hinreichend zu kennzeichnen. Sind doch eine Anzahl der wertvollsten
Verbindungen zusammengesetzt aus Schwefel und Sauerstoff, so daß z. B.
Vergleichspunkte zu Schwefeldioxyd, Trioxyd und Schwefelsäure voll-
kommen fehlen. Auch wird die glühendste Schülerphantasie niemals auf
den Gedanken kommen, die Farbe des Schwefels dunkler, seinen Glanz
metallischer zu nennen als Farbe und Glanz des Sauerstoffs. Aus diesem
Grunde führt man auch das dritte Element der Sauerstoffamilie, das Selen,
in den Untersuchungsgang ein. Weniger der Kostenpunkt, als vielmehr
die stark giftigen Eigenschaften der dampfförmigen Selenverbindungen
bestimmen, daß die Versuche nur vom Lehrer ausgeführt werden. Durch
geeignete Auswahl gelingt es leicht, alles Notwendige in 1—2 Unterrichts-
stunden zu erledigen. Zeit wird also keine verloren, während andererseits
fortgesetzt Gelegenheit gegeben ist, die Eigenschaften der Selenverbindun-
gen mit denen des Schwefels bzw. des Sauerstoffs zu vergleichen. Der
Lehrer erzählt, daß in den Röstgasen mancher Eisenkiese, Bleiglanze und
Silbererze gelegentlich ein eigenartiges Oxyd von der Zusammensetzung
SeO, enthalten ist. Bei der Verarbeitung der Röstgase auf Schwefelsäure
wird das Selen in geringen Mengen als Abfall gewonnen. Das stahlgraue
Selen in Stäbchenform wird vorgezeigt und sein Metallglanz festgestellt.
An Schwefel erinnert es zunächst hinsichtlich seines Vorkommens. Mit
der Messerklinge wird ein kleines Stück von dem übrigen abgetrennt: das
Element ist ebenso spröde wie Schwefel. Das Stück wird im Probierglas
über kleiner Flamme erhitzt: es schmilzt zu einem schwarzen, glänzenden
Tropfen, wobei es das Glas nicht benetzt, ebenso wie Schwefel. Bei stärke-
rem Erhitzen verwandelt es sich in einen tiefbraunen Dampf, der sich an
den kälteren Teilen wieder abscheidet; auch in dieser Einzelheit gleicht
es also dem Schwefel. Dann wird ein kleiner Splitter Selen auf dem Por-
zellandeckel erhitzt und die Gasflamme in den Dampf gehalten. Sie färbt sich
kornblumenblau, woraus folgt, daß Selendampf bei entsprechender Tempe-
ratur verbrennt. Im schwerschmelzbaren Glasrohr wird Selen im Sauer-
stoffstrom erhitzt und der herausfließende weiße Rauch im Kölbchen
gesammelt. Der Lehrer nennt die Zusammensetzung und Formel des
Selendioxyds. Das weiße Verbrennungsprodukt wird in wenig Wasser
Scheid, Methodik des chemischen Unterrichts. 91