Full text: Allgemeiner Teil (6. Band, 1. Teil)

Naturschilderung. 
L71 
F, Naturschilderung, 
So eindringlich die Wirkung eines guten Bildes ist, so zuverlässig es in der 
Seele aller Schüler den gewünschten Abdruck erzeugt, so sınd ihm doch ge- 
wisse Grenzen der Anwendbarkeit gezogen. Jedes Bild ist ein Ausschnitt in 
estem Rahmen, wenn auch die geschulte Phantasie den Rahmen leicht 
erweitert; es ist von einem festen Standpunkt aus aufgenommen, den der 
Betrachter nicht zu verlassen vermag. Die Gegenstände sind in einem gewissen 
Hintereinander aufgebaut; sie decken einander zum Teil, und doch möchte 
der Beschauer oft gern einen Blick hinter die Kulissen werfen. Ferner stellt 
das Bild einen einzigen Zustand dar, sei es freundlicher Sonnenschein oder 
düstere Gewitterstimmung, sei es Sommer oder Winter. Für viele Land- 
schaften mag dies unwesentlich sei; bei anderen liegt das Wesen aber gerade 
im Wechsel. So genügt ein Bild nicht, um das Wesen der Steppe oder der 
Tundra klarzulegen. Schließlich tritt im Bilde jene Zutat stärk zurück, nach 
der der kindliche Geist besonders verlangt: die Handlung, das Leben. Und 
das gibt der einzelne Ausschnitt nicht, weder räumlich, noch zeitlich; dazu ist 
fortwährender Szenenwechsel nötig. 
Hier tritt die Schilderung in die Lücke. Es gibt verschiedene Arten, das 
Bild durch Worte zu ersetzen. Zunächst das einfache Übersetzen der Bildein- 
drücke in die beschreibende Redeform, z. B. die Beschreibung einer Kokos- 
palme nach Wuchs, Blattform, Blütenbau, einer Koralleninsel nach Größe 
Form, Baustoff. Aber das ist noch keine Schilderung. Hierzu gehört, daß wir 
nicht an der Form, nicht am Einzeldinge haften, sondern daß wir die Grup- 
pierung, die Farben und Stimmungen berücksichtigen, daß wir dem Ganzen 
Leben einhauchen, indem wir uns losmachen von dem Rahmen des Raumes 
und der Zeiteinheit. Und schließlich gehört dazu auch eine zusammenhängende 
stilistisch ausgefeilte Darstellung. Erst dann ist die Schilderung nicht nur ein 
Ersatz für das Bild, sondern mehr. „Diese geographische Schilderung ist nicht 
eine rein wissenschaftliche, sondern zu einem guten Teile eine künstlerische 
Aufgabe. Sie kann ein Schmuck sein, so gut wie die Bilder, die wir zur Vervoll- 
ständigung der Beschreibung in den Geographiebüchern geben; aber gleich 
ihnen gehört sie zur Sache“ (Ratzel*). 
Es ist ein weiter Weg von der Schilderung, die wir für unsere Sextaner Zu- 
rechtbauen, bis zu den klassischen Arbeiten eines Humboldt oder Goethe, die 
sich an den Erfahrungskreis hochgebildeter Menschen wenden. Und die Er- 
kenntnis dieses durchgreifenden Unterschiedes ist für den Pädagogen von 
größter Bedeutung. Um sie zu erlangen, müssen wir zu einer Analyse der 
seelischen Vorgänge während der Schilderung schreiten. Nehmen 
wir den einfachsten Fall, der Lehrer schildere eine Gegend, die er selbst genau 
kennt. In seiner Seele baut sich eine ganz bestimmte Landschaft auf, die er 
ı F, Ratzel, Über Naturschilderung. 3. Aufl. — Volksausgabe. München und Berlin, 
Oldenbourg 1911.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.