Full text: Allgemeiner Teil (6. Band, 1. Teil)

Die Kunst des Schilderns. 
173 
erwandert hat, wird Landschaften schildern lernen. Aber das Wandern im 
rein sportlichen Sinne tut’s nicht, sondern erst das andauernde bewußte, 
wissenschaftliche und künstlerische Sehen, das Analysieren der 
sonst zu flüchtigen Gesamtbilder. Nıcht die Fülle des Gesehenen, sondern das 
planmäßige Aufsuchen des geographisch Wichtigen ist dıe Hauptsache, Man 
lese z. B. beı Passarge} die lange Liste dessen, was ein der Geographie Be- 
flissener alles sehen soll; man studiere v. Richthofens Führer für Forschungs- 
reisende oder Neumayers Anleitungen. Und über dem Zerfasern der Eindrücke 
vergesse man nicht das Zusammenfassen, die künstlerische Synthese, die Har- 
monie der Farben und Stimmungen! Das ist jene Stufenfolge von Sehen, 
Beobachten und Schauen, die Ratzel? so trefflich kennzeichnet. 
Zweitens gewöhne man sich, die Beobachtungsergebnisse sofort 
sprachlich, also schriftlich festzuhalten. Das Reisetagebuch ist 
die Fundgrube der farbenechtesten, lebensfrischesten Schilderungen. Jeder 
Eindruck verblaßt, namentlich auf größeren Wanderungen, auf denen leicht 
eine gewisse Überfütterung des Geistes eintritt. Dann ist es schwer, Einzel- 
heiten in der Landschaft und in der Stimmung—in der inneren wie äußeren — 
nach Tagen oder gar erst am Ende der Reise treu wiederzugeben. Gerade die 
besten Vergleiche, die brauchbarsten Verknüpfungen mit dem vorhandenen 
Seeleninhalt kommen oft blitzartig während des Schauens und verschwinden 
dann — kaum recht ins volle Bewußtsein gekommen — für immer. Dann 
bleiben nur zu leicht jene blassen Redensarten vom „gewaltigen Berghinter- 
grund‘, vom „lieblichen Seespiegel‘“ oder dem „rauschenden Walde‘‘, mit 
denen unterrichtlich nichts anzufangen ist. „Erinnern ist kein reines Spiegeln, 
es ist ein Verschieben, Vermischen, Vereinigen, Durchscheinenlassen und Ver- 
kleinern ... Die ersten Eindrücke eines scharfblickenden Beobachters sind 
überhaupt tiefer und ursprünglicher als die späteren, reflektierten; es kommt 
darauf an, sie nicht verwischen und verblassen zu lassen‘ (Ratzel). 
Die Zufälligkeiten der Reise geben nicht alltäglich Gelegenheit zu wirklich 
ausführlichen Schilderungen. „Auch die Naturschilderungen gelingen nur in 
einzelnen Momenten fruchtbarer Stimmung und Gelegenheit.“ Deshalb 
müssen oft Stichworte die flüchtigen Eindrücke festhalten, bis ein Ruhetag 
sie zu verarbeiten gestattet und die Einzelheiten in planmäßiger Synthese auf- 
gebaut werden. Was im Eingange des Abschnittes gesagt wurde, gilt auch hier; 
nur ist das Rezept leichter anzuwenden als während des rasch weiterschreiten- 
den Vortrages: Man überlege sorgfältig, welche Einzelheiten nötig sind, um 
ein lebenswahres Bild zu geben, und ordne sie so an, daß sich das Gemälde 
vom allgemeinen zum besonderen allmählich entwickle. Es gibt keine bessere 
Form für diese mehr zusammenfassende Tagebucharbeit als Reisebriefe., 
Denn unter dem Eindruck, daß wir einer bestimmten Persönlichkeit etwas 
ı S, Passarge, Physiologische Morphologie. Hamburg, Friederichsen 1912, 
2 F. Ratzel, Über Naturschilderung. S. 217 u. f.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.