Full text: Allgemeiner Teil (6. Band, 1. Teil)

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Wesen der Erdkunde. 
schwung oder einen staatlichen Niedergang betreffen: sie alle nach den 
Gründen ihrer Entstehung in naturwissenschaftlich,sachlicher Art zu be- 
trachten sowie in gegenseitige Verbindung miteinander und mit der Ent- 
wicklung der Menschheit als Ganzes zu bringen, darin sieht Ratzel die End- 
aufgabe der Geographie. Sie ist ihm in Wahrheit die Wissenschaft von 
der natürlichen Gesamtausstattung der Erdräume mit be- 
sonderer Rücksicht auf die natürlichen Daseinsbedingungen 
des Menschen‘, Wie Ritter widmet er seine Kraft „gutenteils dem ur- 
alten Problem der Wechselbeziehungen zwischen Natur und Menschheit, 
Schauplatz und Geschichte‘; aber er ist mehr naturwissenschaftlich ge- 
gründet, baut mehr auf eigenen Erfahrungen von Land und Volk auf. Und 
es ist bezeichnend, daß gerade er als ursprünglich reiner Naturforscher 
(Zoolog) die menschliche, kulturgeographische Seite der Erdkunde am 
stärksten betonte. 
Ratzels Ideen sind namentlich durch Ofto Schlüter? fortgebildet worden, 
Er findet einen methodologischen Hauptfehler darin, daß man in der phy- 
sischen Erdkunde einen Gegenstand, die Erdoberfläche, erforscht, in der 
Geographie des Menschen aber ein Ursachenverhältnis zu enthüllen 
sucht. Wir müssen, um folgerichtig zu seın, auch dıe Anthropogeographie als 
Gegenstandswissenschaft betreiben. „Wir müssen auch in der Geographie 
des Menschen das aufführen, was selbst schon als Teil der Erdoberfläche in 
der erweiterten Auffassung der Geographie angesehen werden kann und nicht 
nur zu ihr in einer Beziehung der Abhängigkeit oder des örtlich verschiedenen 
Vorkommens steht.‘ Das sind aber vor allem die Spuren, die die mensch- 
liche Tätigkeit in der Landschaft hinterläßt: die Siedelungen, die Flächen der 
Bodenbewirtschaftung und die Verkehrswege. Diesen Teil der Erdkunde 
nennt Schlüter Kulturgeographie. Grundlage der Kulturgeographie ist 
eine Betrachtung der Urlandschaft, d. h. des Landschaftsbildes, wie es sich 
ohne Beeinflussung durch den Menschen darbieten würde. Daran schließt 
sich dıe Betrachtung des Menschen selbst, der ebenso wie Pflanzen und 
Tiere zum erdkundlichen Forschungsgegenstand wird, und das ergibt eine 
Bevölkerungsgeographie, Rechnet man den Menschen als einen Be- 
standteil der sichtbaren, greifbaren Erdoberfläche, so fällt alles rein Geistige 
aus der Betrachtung fort. So sind nach Schlüter die Sprachen, die 
! Hiermit deckt sich etwa auch Ludwig Neumanns Erklärung der Geographie „als der 
Wissenschaft von der Lage, Bewegung, Größe, Gestalt und Belebung der Erdoberfläche 
an sich und in Beziehung auf den Menschen“, (L. Neumann, Die methodischen Fragen 
in der Geographie. Geogr. Zeitschr. 1896.) 
* Otto Schlüter, Die Ziele der Geographie des Menschen, München, Oldenbourg 1906. 
— Ders., Über das Verhältnis von Natur und Mensch in der Anthropogeographie. Verh. 
d. 16. Deutsch. Geogr.-Tags in Nürnberg 1907. — Ders., Die Stellung der Geographie des 
Menschen in der erdkundlichen Wissenschaft. (Geogr. Abende im Zentralinst. f. Erz. 
u. Unt.). Berlin 1919,
	        
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