Er war ihnen soweit voraus, daß sie meinten,
ihn überholt zu haben. Der Berliner Kreis geist-
reicher Jüdinnen allein hütete sein Andenken
noch. Auch sie verstanden, erkannten ihn nicht,
doch fühlten sie das ungeheure Geheimnis und
hegten es in Ehrfurcht. Dann kam gar ein vor-
witziges Geschlecht, ganz dem Tage zugetan,
das sich vermaß, die Menschheit durch „Ver-
fassungen“ zu heilen; der Dichter galt nur noch
als Lieferant von Zitaten für Festredner in Turn-
vereinen und politischen Liedertafeln, dazu fand
sich in den „Wanderjahren“ und im „Faust“
wenig. Sie wußten mit dem „kalten“ Goethe
nichts anzufangen. Allmählich wurde der von
dem „heiteren“ Goethe abgelöst, dem Olympier,
der eine gewisse Ähnlichkeit mit Heyse, ja mit
Paul Lindau bekam, ein freies Kind der Welt,
hoch über dem Menschenleid beschaulich thro-
nend; den marmornen Goethe nannte man ihn,
er war aber doch mehr aus Gips. Das Beste
taten für ihn noch in aller Stille die verkannten,
unrecht geschmähten Goethephilologen: sie
trugen mit deutschem Fleiße das Material
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