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Anlagen.
eine immerhin nur oberflächliche Kenntniß der lateinischen
Sprache, die mit der späteren Thätigkeit des Technikers in
gar keiner Verbindung steht. —
Insbesondere ist der Zeichenunterricht von großer Be—
deutung und nichts weniger als ein bloßes technisches Beiwerk;
in Folge unserer bisherigen einseitigen und dem Sinne für
Gestalten und Formen unbefriedigenden Erziehungsweise, ist
Geschmack- und Formentalent, was in unserer Industrie
schmerzlich empfunden wird, nicht gen ügend entwickelt, und
das Zeichnen ist das beste Mittel, dieselben zu fördern und
zu heben. Freilich wäre es sehr wünschenswerth, wenn es
gelänge, einen Lehrplan zu finden, der eine einheitlichere
Gestaltung unseres höheren Unterrichts zuließe. So lange
dies aber nicht geschehen, ist es im höchsten Grade dankens—
werth, daß der Herr Handels-Minister den Versuch gewagt
hat, eine höhere Unterrichtsanstalt ins Leben zu rufen, welche
mit Hinweglassung der alten Sprachen die Ausbildung des
Denkoermögens und die allgemeine Bildung des Geistes auf
Grund der Realien, der modernen Sprachen, des Zeichen⸗
unterrichts u. dergl. versuchen will. Wir sind, was wir schon
heroorgehoben, weit entfernt, den Werth grammatikalischer
Studien zu unterschätzen, die Sprache ist das Medium, wo—
durch die Ideenwelt zur Erscheinung gelangt; es ist sicherlich
das Zeichen einer höheren Bildung, daß man dieses Medium
oollständig beherrscht. Allein wir glauben, daß vor Allem
darnach gestrebt werden müsse, die eigene Muttersprache
grammatikalisch und geistig zu erfassen, und daß auch den
grammatikalischen Studien der modernen Sprachen die formale
bildende Kraft nicht abgesprochen werden könne.
Mit Recht sagt Dr. Friedrich Kreissig in einem Artikel
der „Deutschen Rundschau“ über die „Reform unseres höheren
Schulwesens“: Die geistige Einheit der höheren Schule liegt
nicht im Lehrstoff, sondern in der Methode, und die heimische
Sprache und ihre Literatur ist das Palladium unseres natio⸗—
nalen Bewußtseins: sie wird also den Brennpunkt und die
Blüthe jedes humanen höheren Unterrichts bilden.
Ist aber der Plan des Herrn Handels-Ministers erst
durchgeführt, und hat die Erfahrung gelehrt, daß man aus
diesen neuen Gewerbeschulen Kandidaten zieht, welche in Be—
zug auf ihre allgemeine geistige Ausbildung keineswegs hinter
den Schülern der Realschulen erster Ordnung und der Gym—
nasien zurückbleiben, und eine größere praktische Befähigung
für den Beruf mitbringen, dann dürfte hierin zugleich ein
Antrieb für die freiere und die selbstständigere Gestaltung der
von unseren Städten geschaffenen Realschulen überhaupt liegen.
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