Full text: Die höheren Lehranstalten und das Mädchenschulwesen im Deutschen Reich (2. Band)

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Lehrpläne und Lehrbetrieb. 
Gymnasialklassen Mathematik und Naturwissenschaften zusammen die 
gleiche Stundenzahl wie das Griechische und nur zwei Stunden weniger 
als das Lateinische erhielten. Daß die Kräfte der Schüler durch diese 
Anordnung äußerlich zersplittert wurden, war schon schlimm; gefähr- 
licher aber war es, daß ihre Interessen auch innerlich von dem ab- 
gelenkt wurden, was nun ein für allemal der Mittelpunkt der klassi- 
schen Bildung ist. Es zeigte sich alsbald, daß in dem Wettbewerbe 
der Lehrfächer die Neigung der modernen Jugend sich immer stärker 
und entschiedener den realistischen Fächern zuneigte, daß sie anderer- 
seits durch die neuere Geschichte, besonders aber durch die vater- 
ländischen Dichtungen weit lebhafter erweckt wurde, als durch die 
Antike, Mit einem Worte, es zeigte sich, daß das Altertum der deutschen 
Jugend nicht mehr dasselbe bedeutete, wie ihren Vätern und Vor- 
vätern. Es ist klar, daß die Schuld an diesem Wandel nicht nur an 
einer verfehlten Schulordnung lag, sondern daß derselbe tiefer im 
Geiste der Jugend und des Zeitalters überhaupt begründet war. Durch 
die Folgen der Schulreform trat nur zutage, was sich im stillen bereits 
seit einem Jahrzehnt entwickelt hatte; eben jener moderne, nationale 
Geist, der durch die Ereignisse des großen Krieges und die Auf- 
richtung des Deutschen Reiches entfesselt und erstarkt war, hatte 
ganz naturgemäß auch die Gemüter der Jugend ergriffen, er 
bestimmte ihre Interessen und zog sie von der Betrachtung einer 
‚Angst vergangenen Epoche ab, näher liegenden Gegenständen und 
anmittelbaren Eindrücken zu. Das Studium des Altertums hatte auf- 
gehört eine belebende Quelle für den Geist und die Gesinnung 
anserer Knaben und Jünglinge zu sein; es blieb ihnen im besten 
Falle etwas äußerlich Aufgenommenes, höchstens, daß ein oder der 
andere Dichter des Altertums ästhetisch veranlagten Schülern ein 
Interesse abgewann, das selten in die Tiefe ging, oder daß die sug- 
gestive Kraft eines außergewöhnlichen Lehrers seine Schüler vorüber- 
gehend für den Geist des Griechentums zu erwärmen vermochte. In 
den meisten Fällen wurde die Notwendigkeit, sich mit dem Altertum 
zu beschäftigen, von der heranwachsenden Jugend der oberen Klassen 
als ein unerwünschter und unnatürlicher Druck empfunden.) 
“) Dies ist freilich in Norddeutschland früher und stärker hervorgetreten, als in den 
süddeutschen Staaten, wo die nationale und moderne Richtung nicht so ausschließlich 
Besitz von den Geistern ergriff, und auch in Preußen selbst haben einige Schulen, die sich 
auf eine besonders feste Tradition stützten, mit mehr Erfolg als die übrigen den Geist 
les humanistischen Gymnasiums aufrecht erhalten können, so z. B. die alte Fürstenschule 
Schulpforta und längere Zeit auch das Joachimsthalsche (iymnasium in Berlin. Allmählich 
ıber hat der Wandel der Anschauungen sich auch hier durchgesetzt.
	        
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