124 Lehrpläne und Lehrbetrieb.
einer richtigen und klaren Auffassung der vorliegenden Stelle erforder-
ılch sind. Die Hauptsache bei der Lektüre bilden eine auf klarer Ein-
sicht in die sprachliche Form beruhende gute deutsche Übersetzung,
das inhaltliche Verständnis des Gelesenen und die Einführung in das
Geistes- und Kulturleben des klassischen Altertums.“ Die alte Latein-
schule machte es bekanntlich umgekehrt. Sie betrachtete Prosaschriften
und Dichtungen wesentlich als Übungsstoff und Beispielsammlungen
für die grammatische Unterweisung, und auch bei den neuhumanisti-
schen Gymnasien hat sich trotz der schönsten Ideale der Lektürunter-
richt niemals von den grammatisch-formalistischen Gesichtspunkten
irei machen können. Auch hier blieb er mit grammatischen und
stilistischen Erörterungen beladen: die Aufmerksamkeit und das In-
teresse der Schüler wurde gewaltsam vom Inhalt des Gelesenen ab-
zezogen, auf die Form gewiesen und dadurch überhaupt geschwächt,
oft gänzlich vernichtet. Schon in den Lehrplänen von 1882 ist der
Versuch gemacht, die Klassikerlektüre von diesem formalistischen
Ballast zu befreien, aber erst die Lehrordnung von 1892 brach ent-
schieden mit der alten Schultradition, die immer vom Übel gewesen
war, nun aber vollends nach dem Aufgeben des lateinischen Schreibens
jeder Daseinsberechtigung entbehrte. Und die jetzt gültige Lehrord-
nung fährt an der eben angeführten Stelle fort:
„Auf eine gute deutsche, aber möglichst wortgetreue Übersetzung
der Schriftsteller ist überall großes Gewicht zu legen. Sie ist in ge-
meinsamer Arbeit von Lehrer und Schülern in der Klasse festzu-
stellen, nach jedem größeren Abschnitt vom Lehrer als Ganzes vor-
zutragen und in der Regel bei Beginn der nächsten Stunde durch die
Schüler zu wiederholen. Auf der mittleren, noch mehr aber auf der
oberen Stufe kann diese Nachübersetzung eingeschränkt und durch
Fragen, die sıch auf Inhalt und Form des Gelesenen beziehen, ersetzt
werden. Die in der Klasse anzufertigenden schriftlichen Übersetzungen
aus dem Lateinischen in das Deutsche bilden den Prüfstein erreichter
Fertigkeit. Sind gewisse Abschnitte oder ein Ganzes übersetzt, so ist
zemeinsam mit den Schülern eine Übersicht über den Inhalt und
dessen Gliederung festzustellen. Auf der oberen Stufe ist durch den
Lehrer außer den Grundgedanken auch die Kunstform des Gelesenen
den Schülern zum Verständnis zu bringen. Bei Schriftstellern oder
Schriftwerken, welche nicht vollständig gelesen werden können, ist
streng darauf zu halten, daß die Auswahl nach bestimmten sachlichen
Gesichtspunkten erfolgt, immer ein möglichst abgeschlossenes Bild
gewährt und der Zusammenhang der Teile klargelegt wird.“