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Lehrpläne und Lehrbetrieb.
zwar alt- und mittelhochdeutsch, auch wohl gotisch, aber nicht neu-
hochdeutsche klassische Literatur in der Schule behandelt wissen
wollte. Allmählich aber wurde das Unnatürliche dieses Zustandes
immer deutlicher empfunden. In demselben Maße wie in den weiteren
Kreisen der Gebildeten Interesse und Verständnis für die Werke
Schillers und Goethes zunahm, wurde auch das Verlangen immer
dringender, die Jugend auf der Schule in diese Werke einzuführen,
and die Jugend selbst war es, in der das Bedürfnis danach sich am
entschiedensten regte. Und ähnlich verhält es sich mit der neueren,
'nsbesondere der vaterländischen Geschichte. Der ursprünglichen
Anlage der neuhumanistischen Jugendbildung entsprach es, nur die
Geschichte der alten Welt in den Lehrplan aufzunehmen; an diese
schloß sich in der Praxis ein Überblick über die weitere weltgeschicht-
liche Entwicklung, aber in die neue oder gar neueste Zeit wurde er
aur selten und lückenhaft fortgeführt, und es hat um die Mitte des
19. Jahrhunderts nur wenige deutsche Gymnasiasten gegeben, die
von den Freiheitskriegen und ihren Folgen etwas Ernstliches in der
Schule zu hören bekommen haben. Auch dies stellte sich immer
deutlicher als ein Mißstand heraus, der der Abhilfe bedurfte. Die
Realschule vermochte, wie einleuchtet, diese neuen Elemente der
Bildung verhältnismäßig leicht ihrem Lehrplan anzugliedern, der ja
ahnehin auf das Moderne gerichtet war. Für den Geist des huma-
aistischen Gymnasiums aber bedeutete das wiederum eine um so
größere Gefahr, je natürlicher und deutlicher es war, daß die Schüler
der deutschen Dichtung und der vaterländischen Geschichte ein leb-
hafteres Interesse entgegenbrachten als der antiken. —
Soweit etwa hatten sich die inneren Verhältnisse der höheren
Schule entwickelt, als durch die Ereignisse des Jahres 1870/71 das
nationale Leben eine entscheidende Wendung und einen gewaltigen
Aufschwung erhielt und nunmehr alle jene Bedürfnisse nationaler,
oraktischer, modern wissenschaftlicher Art in einem bis dahin un-
gekannten Grade dringlich und allgemein wurden. Je entschiedener
Deutschland in den Brennpunkt des modernen Völkerlebens, in
Politik, Handel und Technik trat, desto wichtiger wurde es, daß die
deutsche Jugend mit derjenigen Bildung ausgestattet wurde, durch
die allein eine solche Stellung behauptet werden konnte: Kenntnis der
grundlegenden Naturwissenschaften, Bekanntschaft mit den neueren
Völkern, ihren Sprachen und ihrer Geschichte, bewußtes Verständnis für
die Eigenart des eigenen Vaterlandes. Und doch konnten verständige und
wohlmeinende Männer nicht wohl daran denken, das Band gewaltsam