Full text: Die höheren Lehranstalten und das Mädchenschulwesen im Deutschen Reich (2. Band)

76 
Lehrpläne und Lehrbetrieb. 
zwar alt- und mittelhochdeutsch, auch wohl gotisch, aber nicht neu- 
hochdeutsche klassische Literatur in der Schule behandelt wissen 
wollte. Allmählich aber wurde das Unnatürliche dieses Zustandes 
immer deutlicher empfunden. In demselben Maße wie in den weiteren 
Kreisen der Gebildeten Interesse und Verständnis für die Werke 
Schillers und Goethes zunahm, wurde auch das Verlangen immer 
dringender, die Jugend auf der Schule in diese Werke einzuführen, 
and die Jugend selbst war es, in der das Bedürfnis danach sich am 
entschiedensten regte. Und ähnlich verhält es sich mit der neueren, 
'nsbesondere der vaterländischen Geschichte. Der ursprünglichen 
Anlage der neuhumanistischen Jugendbildung entsprach es, nur die 
Geschichte der alten Welt in den Lehrplan aufzunehmen; an diese 
schloß sich in der Praxis ein Überblick über die weitere weltgeschicht- 
liche Entwicklung, aber in die neue oder gar neueste Zeit wurde er 
aur selten und lückenhaft fortgeführt, und es hat um die Mitte des 
19. Jahrhunderts nur wenige deutsche Gymnasiasten gegeben, die 
von den Freiheitskriegen und ihren Folgen etwas Ernstliches in der 
Schule zu hören bekommen haben. Auch dies stellte sich immer 
deutlicher als ein Mißstand heraus, der der Abhilfe bedurfte. Die 
Realschule vermochte, wie einleuchtet, diese neuen Elemente der 
Bildung verhältnismäßig leicht ihrem Lehrplan anzugliedern, der ja 
ahnehin auf das Moderne gerichtet war. Für den Geist des huma- 
aistischen Gymnasiums aber bedeutete das wiederum eine um so 
größere Gefahr, je natürlicher und deutlicher es war, daß die Schüler 
der deutschen Dichtung und der vaterländischen Geschichte ein leb- 
hafteres Interesse entgegenbrachten als der antiken. — 
Soweit etwa hatten sich die inneren Verhältnisse der höheren 
Schule entwickelt, als durch die Ereignisse des Jahres 1870/71 das 
nationale Leben eine entscheidende Wendung und einen gewaltigen 
Aufschwung erhielt und nunmehr alle jene Bedürfnisse nationaler, 
oraktischer, modern wissenschaftlicher Art in einem bis dahin un- 
gekannten Grade dringlich und allgemein wurden. Je entschiedener 
Deutschland in den Brennpunkt des modernen Völkerlebens, in 
Politik, Handel und Technik trat, desto wichtiger wurde es, daß die 
deutsche Jugend mit derjenigen Bildung ausgestattet wurde, durch 
die allein eine solche Stellung behauptet werden konnte: Kenntnis der 
grundlegenden Naturwissenschaften, Bekanntschaft mit den neueren 
Völkern, ihren Sprachen und ihrer Geschichte, bewußtes Verständnis für 
die Eigenart des eigenen Vaterlandes. Und doch konnten verständige und 
wohlmeinende Männer nicht wohl daran denken, das Band gewaltsam
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.