noch bleibt selbst in Frankreich ein nicht zu erklärender Rest. Auch
dort ist die gotische Formenwelt zu jäh dem Boden der Zeit ent-
sprossen, zu überraschend im ganzen, zu eigenartig, ja abstrus in
jeder Form, als daß die Stilkonzeption nur historisch verstanden
werden könnte.
Die Gotik ist ein herrischer Stil; sie will alles oder nichts. Ihr
Ziel ist das Gesamtkunstwerk. Darum mußte in Deutschland die
Skulptur von der eben erreichten Höhe herabsteigen, ihre monu-
mentale Innerlichkeit verlieren und Züge des Dekorativen anneh-
men. Die Statue wurde gezwungen formal der Architektur zu fol-
gen, sie mußte ihr erhabenes Eigenleben aufgeben und sich statt
dessen einem mehr ornamentalen Rhythmus fügen. Und die Ma-
lerei diente auch dekorativ — als Glasmalerei. Alle autokratischen
Stile, die das Gesamtkunstwerk wollen — wollen müssen —, haben
den einseitigen Strom der Kräfte, sie drängen die Persönlichkeit zu-
rück, zwingen das Talent zur Einordnung und lassen den Spezia-
listen nicht zu. In der Gotik geht diese Unterordnung bis ins klein-
ste. Es entsteht jene Einheitlichkeit, die einige Jahrhunderte später
im Barock wiedergekehrt ist, wenn auch weniger elementar, und
wofür sich auch in Asien Parallelen finden.
Die Romanik war eine aristokratische Kunst gewesen; angemes-
sen geistlich-geistig regierenden Priestern und einem ritterlichen
Adel, eine Führerkunst, nur mittelbar für das Volk geschaffen.
Während sie sich vollendete war das Volk noch unmündig, es stand
in den Kinderschuhen, wollte geleitet werden und wurde geleitet,
fast so, wie Plato es für seinen Idealstaat gefordert hatte. Die Go-
tik erst wurde zum Sinnbild einer volkhaften geistigen Selbstbesin-
nung. Es war, wie wenn der Jüngling zum Gefühl seiner Kräfte,
zum Bewußtsein seiner Instinkte kommt. In den Zeiten des roma-
nischen Stils hatten Kaiser und Päpste um die Vormacht gekämpft,
die gemeinsame Beherrschung des Volkes aber war selbstverständ-
lich. In gewisser Weise hatten die Besten, die Klügsten, die allein
systematisch dazu Erzogenen geherrscht. Jetzt begann das Volk,
jetzt begann jeder einzelne sich mit der Religion und in der F olge
auch mit Staat und Wirtschaft zu beschäftigen, das Volk begann,
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