Aufgelöstheit, die romantische Fülle und abstrakte Schärfe der Gotik? Es
wird wohl auf die naheliegende Antwort hinauslaufen: beides ist deutsch,
und zwar beides nebeneinander. Die Welt der deutschen Kunst ruht in
zwei Polen.
Die Gotik faßte in Deutschland Fuß nach dem Zusammenbruch des
Kaisertums, während des Interregnums (1257-1273), zugleich mit dem ein-
setzenden Partikularismus und dem daraus und aus anderen Ursachen sich
ergebenden Aufstieg der Städte und dem Erstarken der Stadtbevölkerung.
In der Mitte des 13. Jahrhunderts hatte das Rittertum, dessen freie Lebens-
haltung sich in der Monumentalskulptur und in den gewaltigen Helden-
epen vor allem spiegelt, seine Kraft erschöpft. In seinen Händen wurde
Tradition zur Konvention. Die Kreuzzüge waren im wesentlichen miß-
lungen, das ideologisch zu hoch gesteckte Ziel hatte nicht erreicht werden
können; nur die Kolonisierungsarbeit der Deutschordensritter im Nord-
osten setzten den Kreuzzugsgedanken praktisch noch fort. Mit dem Verfall
des Kaisertums war schon äußerlich eine gewisse Zersplitterung des Adels,
des Rittertums verbunden; die Wiederherstellung des Kaisertums unter
Rudolf von Habsburg und seinen Nachfolgern konnte daran nichts ändern,
weil der dynastische Gedanke ein anderer geworden war, weil es sich jetzt
um ein reines Wahlkaisertum handelte, dem die Idee eines selbsttätig
fortzeugenden Erbwillens fehlte, weil ein mehr formales als seelisch zu-
sammenfassendes Kaisertum über Deutschland herrschte. In jedem Sinne
mußte die Einheitlichkeit verlorengehen. Die vielen kleinen Fürsten-
tümer, die weltlichen und geistlichen, wurden anspruchsvoll; und sie
wurden es in einer politischen Weise auf Kosten des Ganzen. Eine merk-
würdige, aber unglückliche Rolle hat in diesem Wandel der Sohn Fried-
richs II., der als Römischer König gekrönte, später von seinem Vater in
Gefangenschaft gesetzte Heinrich VII., gespielt. Ihm trotzten im Jahre
1231 auf einem Reichstag in Worms deutsche Territorialfürsten gewichtige
königliche Rechte ab, auf Kosten der zentralen Kaisermacht. Eben um
dieser Niederlage willen, um sie abzuschwächen, hielt Heinrich VII. an
einer städtefreundlichen Politik fest, so daß zugleich mit den Landes-
fürsten die Macht der Reichsstädte erstarkte. Kaiser Friedrich II. mußte
notgedrungen die Zugeständnisse seines Sohnes an die Landesfürsten und