Ergotismus, 325
den lassen. Was zunächst den Ackerretlig oder Hederich betrifft, welchen
C. von Linne und sein Schüler Rothmann ganz besonders beschuldig-
ten, so darf derselbe aus trifiigen Gründen für völlig schuldlos erklärt
werden. Wie nämlich Wahlin durch Experimente erwies, veranlasst der
Samen des Hederichs ganz andere Symptome, als die der Kriebelkrank-
heit, was um so glaublicher ist, als die Samen der Cruciferen (Rettig,
Meerrettig, Löffelkraut,, Senf u. s. w.) durchweg als reizende und phlogo-
sische Stoffe bekannt sind. Dazu kommt, dass nach Taube*) und an-
dern Forschern gerade der Hederichsamen in den Cerealien fehlte, nach
deren Genuss die Kriebelkrankheit epidemisch aufkam. Muss hiernach der
Ackerreilig unter den Ursachen der Kriebelkrankheit gestrichen werden, so
darf man nicht minder das Tollkorn, welchesSchleger, und selbst noch
neuere Aerzte verdächtigten, von der Beschuldignng, die Kriebelkrankheit
zu erzeugen, gänzlich frei sprechen. In der That sind nach den Beobach-
Inngen und experimentellen Untersuchungen von Seeger*), Cordier**),
Zepperfeld7), Schneider;yr), Ruspini7rfr) u. A.!) die Erscheinun-
gen und Zufälle, welche der Taumellolch bei Menschen und Thieren her-
vorbringt, ganz andere, als die, welche im Verlaufe der Kriebelkrankheit
beobachtet wurden. Dazu kommt, dass der Taumelloleh, wie sowohl
Taube?) und andere ältere Aerzte als auch neuerdings Puchstein sich
überzeugten, gerade in dem schädlichen, die Kriebelkrankheit erzeugen-
genden Getreide gänzlich fehlte, während andere naturwüchsige, giftige
Zumengungen in Menge zu finden wären. Was ferner die kleinen epiphy-
tischen Schmarotzerpilze (Brand u. s. w.) betrifft, welche von Sauvages
u. a. älteren Aerzten, als die äussere Ursache der Kriebelkrankheit be-
trachtet wurden, so kann denselben keine grosse Schuld beigemessen
werden, schon aus dem Grunde, weil sie in manchem ganz notorisch
schädlichen Getreide gar nicht zu finden waren. Kamen sie aber vor,
wie in der Celler Epidemie von 1770, so konnten dieselben vielleicht als
krankheitsbegünstigende Ursachen wirken, in sofern, als durch ihren Ge-
nuss die Nutritionsverhältnisse des Körpers jedenfalls merklich gestört
wurden. Bleibt hiernach nur das Mutterkorn als verdächtig übrig, so
ist es sicher auch dieses Naturprodukt, welches als äussere Ursache
der Kriebelkrankheit zu betrachten ist. Zu dieser Beschuldigung drängen
aber nicht nur alle Thatsachen, welche von älteren’ Aerzten bei Verfolgung
der Epidemien durch directe Beobachtung erhoben wurden, sondern auch
die Ergebnisse vieler Experimente, welche man in älterer und neuerer
Zeit zur Controlle der Wirkungen des Mutterkorns anstellte. So bemerk-
ten alle Aerzte des 17. und 18. Jahrhunderts, welche den Ursachen der
Kriebelkrankheit mit Sorgfalt nachgingen , vor allen aber Anton Serinei
und Johann Taube, dass das Getreide, welches die Krankheit epide-
misch hervorrief, aller Orten mit mehr als einem "gs, ja zuweilen mit 1%
Mutterkorn gemengt war. So bemerkten dieselben Forscher, dass Nie-
ER 108.
*) Seeger, Diss. de Lolio temulent, Tüb. 1710.
***, Nouv. Journ. de Med. p. Magendie et Orfila VI. A. 379.
+) Casper’s Wochenschrift 1835. Nr. 38.
r}) Allgem. med. Annal. XX. 1817. S. 1537.
jrr) Journ. de chim. med. 1844. p. 80.
') J. Taubea.a 0. S. 913 — 9%0. — Christison trealise on poisons 4 ed,
p. 944.
») 3.2.0, 8 416i u 163,