3296 Falck, die klinisch wichtigen Intoxikationen,
mand von der Kriebelkrankheit befallen wurde , der nicht frisches , aus
mutterkorphaltigem Getreide bereitetes Brod oder andere Mehlspeisen
einige Zeit zu sich genommen hatte und dass namentlich die Säuglinge,
welche die Mutterbrust zur Nahrung empfingen, aller Orten von der Krank-
heit auffallend verschont blieben, während doch Thiere unter der Krank-
heit zu leiden hatten. Endlich bemerkten dieselben Forscher, dass die
Kranken nach dem Genusse von reinem Brod sofort sich besserten, und
„dass Rückfälle einiraien, wenn die aus den Hospitälern entlassenen Indi-
“ viduen von multerkornhaltigem Brode aufs Neue verzehrien. Aber auch
die Ergehnisse des Experiments, welche zur Controle der Wirkungen des
Mutterkorns von vielen Aerzten, besonders aber von Dietz, Gross, Bon-
jean, Wright, Millet u. A. an Thieren und freilich kärglicher an Men-
schen angestellt wurden, sind der herrschenden Ansicht, hinsichtlich der
äusseren Ursache der Kriebelkrankheit nicht ganz zuwider, wenigstens geht
daraus soviel hervor, dass dasMutierkorn unter Umsiänden nicht nur con-
vulsivische, sondern selbst opisthotonische Leiden und andere Zufälle der
Kriebelkrankheit zu erzeugen vermag. Freilich lässt sich nicht leugnen,
dass die Experimente viel lehrreicher sein würden, wenn dieselben nicht
mit dem gewöhnlich vorkommenden Mutterkorn, sondern mit einem exqui-
sit gifigen Mutierkorne wären angestellt worden. Als solches beirachten
wir aber das Mutterkorn, welches in dem krankheitserzeugenden Getreide
enthalten war, um so mehr, als wir durch Taube und andere gute Be-
obachter wissen, dass das im schädlichen Roggen enthaltene Mutterkorn
mit ungewöhnlichen physicalischen und chemischen Eigenheiten versehen
war, und als nach pharmacognostischen Analogien zu vermuthen steht,
dass gewisse giftige Bestandtheile des Mutterkorns nur unter besonderen
örtlichen und zeitlichen Verhältnissen zur stärkeren Ausbildung gelangen.
Darin mag es denn auch begründet sein, wesshalb das Mutterkorn der Sologne,
des französischen und helvelischen Bodens fast immer den Brand erzeugte,
während derGenuss des deutschen und nordischen Mutterkorns die Krie-
belkrankheit zur Folge hatte, wenn man nicht annehmen will, dass der
Grund dieser auffallenden Differenz nur in quantitativen Verhältnissen des
Vorkommens und der Consumtion von Mutterkorn gelegen war. Für letz-
teren Grund spricht allerdings der Umstand, dass zwischen dem Mutter-
kornkrampfe und dem Mutterkornbrande ganz deutliche Uebergänge be-
obachtet wurden, so z.B. bei der Harzer Epidemie von 1693, bei der von
Lange beobachteten Brandseuche von 1709 und 1716, sowie endlich bei
Epidemien, welche von 1749—1750 im Artesischen herrschten.
Ausser dem Mutterkorn sind zur Erzeugung der Kriebelkrankheit
sicher noch mitwirkende und prädisponirende Verhältnisse nothwendig. In-
dessen ist unsere Kenntniss davon so gering, dass sich kaum Etwas mit
Bestimmtheit aussagen lässt. Darf man den älteren Aerzten Vertrauen
schenken, so muss Armuth und Noth, sowieEntbehrung aller Art die Ent-
stehung der Krankheit sehr begünstigt haben, wenigsiens steht fest, dass
die Krankheit mehr unter den niederen, schlecht genährten Volksklassen
grassirte, als in den höheren, gut genährten Schichten der Gesellschaft.
Dass aber auch eine gewisse Prädisposition zur Krankheit vorhanden sein
musste, ergibt sich daraus, dass aller Orten die Kinder (nicht zu verwech-
seln mit den Säuglingen) mehr als Erwachsene an der Krankheit zu lei-
den hatten, und dass bei ganz gleicher Art der Beköstigung nicht sel-
ten ein Mitglied einer Familie der Krankheit verfiel, während die ande-
ren entweder gänzlich befreit blieben, oder nur Spuren der Krankheit
bemerkten.