514 Conſtitutionnelles Syſtem
Mistrauen entgegen und läßt die Gewalt lieber geradezu in die Hände der Gesner
übergehen, ald daß fie der fchulgerechten gelehrten Bildung einen unmittelbaren
Einfluß einrâumte. Alle Verfaſſungen ſeit 1815 bis in die lezten Jahre ſind von
dieſem Vorurtheile durchdrungen. Sie haben zwar der Geiſtlichkeit, den Univer-
fitäten hier und da einige Stimmen bei der Landesvertretung eingeräumt, aber
3. B. Weimar der Landesuniverfität nur wegen des zufälligen Beſizes einiger
Dotalgüter, alfo unter den Rittergütern, und ſie haben außerdem deſto mehr dafür
zu ſorgen geſucht, daß nur Beſis und Gewerbe, aïſo materielle Jntereſſen, nicht
aber die Höhern allgemein menfchlichen Sntereffen der Erziehung, der Kirche, der
Gerechtigkeit mit Einſicht und Kenntniß der Sache vertreten werden. Gleichwol
liegt eben darin, daß auch die nöthige technifche Kenntniß in der Mitte der Land:
ſtände anzutreffen fei, und daß die gelehrte Bildung Zutritt und Einfluß habe, dag
vorzüglichfte, ja das einzige Mittel, den Zweck aller Tandftändifchen Einrichtungen
zu erreichen, welcher Doch zulegt darin gefucht werden muß, die Verwaltung und
die Geſeßgebung dergeſtalt in Aufſicht zu halten, daß fie dem Wohle des Ganzen
gemäß ſind, nicht aber Werkzeuge einer willkürlichen Herrſchaft werden. Es wer:
den daher auch allenthalben Stimmen vernommen, welche auf Verbeſſerung der
Mahlgefege und eine größere Wahlfreiheit dringen, und man kann ſagen, daß darin
fein unbedeutender Fortſchritt der Ausbildung des conſtitutionnellen Syſtems zu
erkennen iſt. Man hat in Frankreich den Wahlcenfus herabgefegt, und eine gleiche
Herabfegung iſt ein Hauptbeſtandtheil- der engliſchen Parlamentsreform. (S.
MWahlgefege und Parlamentsreform.)
Wenn wir nun die Vorgänge der legten fünf Jahre in Beziehung auf das
conſtitutionnelle Leben der Völker betrachten , ſo iſt freilich dabei nicht aus den Au-
gen zu ſegen, daß nicht alles Neue auch für das Beſſere angeſehen werden darf.
Zwar kann kein denkender Geiſt, kein religiös geftimmtes Gemüth den Glauben
an eine hôhere Erziehung des Menſchengeſchlechts entbehren oder verleugnen, und
dieſer Glaube führt unvermeidlich zu. der Überzeugung , daß der ſpätere Zuſtand
beſſer ſein müſſe als der frühere, und daß die Welt nicht zum Verderben fortgeriſſen,
ſondern im Ganzen zu höherer Vollkommenheit erzogen werde. Allein es ſind da-
bei die Worte: im Ganzen, ſehr weſentlich ; denn daß bei den einzelnen Völkern je-
derzeit und unbedingt die Gegenwart der Vergangenheit vorzuziehen fei, läßt ſich
durchaus nicht behaupten, ſondern nur, daß jeder Zeitabſchnitt ohne Ausnahme
eine Übergangs: oder Entwidelungsperiode iſ, und alſo, wo nicht die Reſultate
wirklicher Verbeſſerung, doch entweder die noch unvollkommenen Verſuche oder die
entferntern Vorbereitungen dazu enthält. Damit das Schlechte ausgeſtoßen werde,
muß es ſich zuweilen erſt reht entwi>eln , in feiner vollen Schlechtigkeit hervor-
treten und von dem Guten abſondern; daraus entſtehen Zuſtände bei einem Volke,
welche als Krankheit, aber als Entwickelungskrankheit, betrachtet werden müſſen,
Erſchlaffung, in welcher die Kräfte zu neuem Aufſchroung geſammelt werden, und
Gährungen, welche, für ſich allein betrachtet, Abſcheu erregen, aber zu einer neuen
volléfomienern Geſtaltung des Volkslebens führen. . Schlechterdings verwerflich
ift aber die entgegengefegte Anficht, daß das Menfchengefchleht vom Beffern zum
Sthlechtern herabfteige, fo weit fie auch verbreitet und fo nahe ihre Quelle iſt, Denn
dieſe hat einen doppelten Grund, welcher aber auch nur auf einer Täuſchung be-
ruht, nämlich auf der individuellen, daß man in den fpätern Perioden des Lebens
mit der Gegenwart unzufriedener wird, und die Zeit der Kraft und reichlichere Bes
friedigungen in der Vergangenheit liegen ſieht, und auf der allgemeinern, daß auch
im Leben der Völker eine Glanzperiode der Jugend anzutreffen iſ, welche großartige
und în die fernſte Nachwelt hineinſtralende Erſcheinungen hervorbringt. Aber wenn
man die Pyramiden und andere Denkmäler ungeheurer menſchlicher Anſtrengung
bewundert, ſo darf man nicht vergeſſen, wie viel Blut und Schweiß ſie gekoſtet
il