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Deutſche Kunſt 589
Nach dem Vorgange jener Claſſification poetiſcher Manieren und Style, welche
gegenwärtig zwar unter uns kaum mehr üblich, doch bisher noch in Erinnerung iſt,
wird man diejenige Richtung der neuern Kunſt, welche vorzugsweiſe in den Kunſt-
traditionen des Mittelalters Anknüpfungspunkte ihres Beſtrebens findet oder doch
zu finden glaubt, die romantiſche nennen dürfen. Indeß liegt ihr Unterſcheidendes
eigentlich in einer ſtrengern Auffaſſung von chriſtlichen Jdeen, Gefühlen und Vor-
ſtellungsarten, bei freierer Auffaſſung alles Übrigen, beſonders des rein Poetiſchen.
Denn die éntgegengeſeßte archäologiſch-äſthetiſhe Richtung wollte und will um-
gekehrt eben jenes Chriftliche frei und abgelöft von den Traditionen des Mittelal-
ters, nach antiken und ganz modernen Vorbildern ummobdeln, hingegen in jeder
andern Beziehung, 3. B. im Mythologiſchen, eine gewiſſe hiſtoriſchzgelehrte Strenge
und Gebundenheit einführen. Welche von beiden Richtungen der Kunſt, als ſolcher,
günſtiger ſei, wird und muß die Zeit lehren. Übrigens fehlt es der chriſtlichen Ty-
pologie der neuern Maler bis jegt an ſichern, hiſtoriſch begründeten Anknüpfungs-
punkten. Die phantaſtiſchen Abweichungen vieler Künſtler des vorgerü>tern Mit-
telalters haben dem ſtreng:chriſtlihen Maler häufig ſein wahres Vorbild (‘das
höhere chriſtliche Alterthum) aus den Augen entrú>t. Gewiß hat ſeit Rafael kein
neuerer Maler je mit Demjenigen, was in dieſer Beziehung allein als Richtſchnur
anzunehmen wäre, ſich ernſtlich bekannt gemacht. Reinere Vorbilder des Typiſchen,
als Giotto und deſſen phantaſiereiche Nachfolger, gewähren die uralten Mufive zu
Rom, Ravenndá, im äußern Bogengange der Marcuskirche zu Venedig, im Doms
\chabe zu Florenz, in den neugriechiſchen Miniaturen des 8. bis 12. Jahrhun:
derts, vorausgefest, daß man in diefen das Hochalterthümliche vom häufig ein
gemiſchten MWufte der barbarifirten Zeiten gehörig unterſcheide. Je mehr auch im
Übrigen wohlausgerüſtete Künſtler mit dieſen Typen ſich bekannt machen, je leich-
ter wird es ihnen fallen, ihren chriſtlichen Darſtellungen jenen feſten, Ehrfurcht ges
bietenden Charakter zu geben, den wir in Rafael's Werken bewundern. Ein An-
deres freilih, wo dem Künſtler die Gelegenheit ſich zeigt, auh im Gebiete-neuerer,
mönchiſcher Traditionen ſich zu verbreiten; denn in Beziehung auf dieſe tritt
Giotto mit ſeinen zahlloſen Nachfolgern offenbar in daſſelbe Recht der Präcedenz
ein, welches in allgemein chriſtlicher eben nur dem Hochalterthümlichen zugeſtanden
ward. Kürzlich hat Friedrich Overbeck in der Kirche degli Angeli unweit Aſſiſi bei
Darſtellung eines Wunders aus der Legende des heil. Franciscys gezeigt, welchen
Gewinn es bringe, ganz mittelalterliche Vorſtellungen auch ganz in dem Charakter
auszuprägen, den die Kunſt von Anbeginn denſelben beigelegt hatte. Hingegen
gibt es im Gebiete des rein Poetiſchen aus dem Gefichtspunfte der Romantifer
überall feine Beſchränkung auf ein hiſtoriſch Gegebenes. Denn in der Bekleidung,
Charafteriſtif, Anordnung von Darſtellungen dieſer Art geſtattet ſich dieſe Rich-
tung die ungebundenſte Freiheit der Erfindung. Wenn es ihr nun auch gelingen
ſollte, die Anſprüche der Gelehrſamkeit, welche allerdings nicht ſelten kleinlich und
von wenigem Belang ſind, ganz zu beſeitigen oder zu beſchwichtigen, ſo möchte ſie
doch mit dem allgemeinern Geſchma>e nicht ſo leicht ſich abfinden können. Klei-
dungen und Waffenſtü>e, welche gar zu bizarr erſcheinen, der Geſtalt und Bewe-
gung auch gar nicht fich anpaſſen wollen, übertriebene Charaëteriſtif, ungelenfe
Bewegung, unnöthige Häßlichkeit, werden auch dieſer freiern Richtung kaum ge-
ſtattet ſein, wenigſtens ſie nicht empfehlen Eönnen. 3) Naturalismus. ©o
nennt man ausfchfießlich diejenige Richtung, welche nicht allein ihre Formen, fon:
dern ſelbſt die Gegenſtände ihrer begeiſterten Auffaſſung und Darſtellung in dei
gewöhnlichecn Erſcheinungen der Natur aufſucht. Unter dem Namen von Genre-
bildern unterſcheidet man die Beziehungen des Naturalismus auf Vorgänge des
menſchlichen Lebens von den Landſchaften, Frucht- und Blumenſtüken, Stillleben.
Die deutſchen Arbeiten aller dieſer Arten des Naturalismus werden ſtark geſucht,