624 Deutſche Literatur
politiſches Sein anſchließe, und aus demſelben, als eine nothwendige Frucht, hervor-
gehe, hat ſih vielleicht zu feiner Zeit augenfälliger dargethan als in der unſrigen.
Es iſé dies unter Erſcheinungen geſchehen , die zu ſehr den Ubergang zu einer neuen
Ara bezeichnen, als daß die Betrachtung derſelben in ihrer Beziehung auf den Ent-
wi>elungsgcing der vaterländiſchen Literatur an dieſer Stelle zurückgewieſen wer-
den könnte, Dem aufmerkſamen Beobachter konnten die Anzeichen nicht ent-
gehen, mit. denen ſich, was in den lezten Jahren eingetreten iſt, voraus ankün-
digte, und, wir ſelbſt haben in einem der Mehrzahl unſerer Leſer nicht unbekann-
ten Aufſa:he in der 1822 erſchienenen Neuen Folge des Converſations - Lexi-
kons früher darauf hingewieſen. Als das deutſche Volk nah Napoleons Falle
ſeine Unabhängigkeit nah Außen auf lange hinaus geſichert und ſich im Beſitze
von Verheißungen ſah, die auch für die innere Freiheit , deren Bedürfniß zu Eeiner
Seit fic) vilelfiimmiger und lauter angekündigt hatte, die ausreichendfte Gewähr zu
leiften fchienen, da war es, als ginge durch alles Volk ein Wonnegefühl erneuer-
ten Daſei11s, ein Jubel der Hoffnung. Die Erkenntniß und Anſchauung des in-
nern Lebens, in das ſich die Betrachtung, des äußern Treibens müde, zurldgezos
gen hatte, wollte nun niht mehr genügen; die Augen öffneten fich nad) Außen,
und an die Stelle empfindſamer Beſchaulichkeit und thatloſer, mit einem dunkeln
Sehnen nach einer untergegangenen, Herrlichkeit verbundenen Trauer über das
Seiende, trat der Hinbli> auf das Äußere. und die Freude am Werdenden und
Geſchichtlichen. Der elegiſch-ſubjective Charakter der frühern Zeit — wenn wir ſo
ſagen ſollen — ging allmälig, aber füë Alle, die da ſehen wollten, ſichtbar genug,
in dem plaſtiſch-objectiven einer neuen unterz das lyriſche Element der Poeſie,
das der oben erwähnte Aufſa6 noch als vorherrſchend betrachten durfte, trat mehr
und mehr hinter das epiſche zurü>z die Vorliebe der Schriftſteller wie der Leſcr
wendete ſich der Geſchichte zu, und auch andere Disciplinen, die früher von derſel-
ben nur: beiläufig, als einer für manche Fälle brauchbaren Gehülfin, Kunde ge-
nommen, ſuchten ſich auf gefchichtlichem Grunde zeitgemäßer und feſter zu bauen.
Die Philoſophie ſelbſt, lange Zeit hindurch die Hauptführerin in allen wiſſen-
ſchaftlichen Beſtrebungen, mußte, nachdem ſie wol zuweilen durch unbefonnene
Machtiprüche ihr hergebrachtes Necht gemisbraucht und mit unverantwortlichen
Hirngefpinnften felbft auf dem Boden des thatfächlich Gegebenen dem gefunden
Menſchenverſtande Hohn geſprochen hatte, dem realen Intereſſe weichen , und ver-
mochte hôchſtens noh durch ihre Oppoſition gegen den auftauchenden Geiſt der
Zeit Aufſehen, nie aber durch ſich ſelbſt die ihr als Wiſſenſchaft gebührende allge-
meine Theilnahme zu erwe>en. Schien ſich in dieſer Richtung ein immer gefähr-
lichèr, am wenigſten dem deutſchen Sinne ziemender gänzlicher Abfall vom Jdea-
len anzukündigen, ſo war doch, ſo lange derſelbe noch nicht wirklich eingetreten war,
für den Augenbli> Manches gewonnen. Die großen politiſchen Lebensfragen wur-
den immer ſchärfer ins Auge gefaßt und mmer vielſeitiger, theilweiſe auch gründ-
licher erörtert, die materiellen Intereſſen der Geſellſchaft mit minderer Zurü-
haltung erwogen, die Sache der religiöſen und bürgerlichen Freiheit, ſelbſt unter
noch fortwaltender Cenſurbeſchränkung, kühner verfochten. Auch in der Poeſie
ward Das, woran die Einſichtsvollern nie gezweifelt hatten, allgemeiner erkannt,
daß es in aller Kunſt keine größere Verirrung gebe als die Abſonderung des ſich
ſelbſt genügenden Dünkels von der Natur, und daf nur aus der Rückkehr zu die-
ſer der Poeſie hinfort einiges Heil erwachſen könne. Wenn dieſe Einſicht alsbald
zahlreiche neue Verirrungen zur Folge hatte , ſo lag es nicht an ihr, ſondern an
der einfeitigen Anwendung des Grundfages, die in der Kunft jedes Mal zur Ga:
ricatur führt. Gefährlicher ward ihr der immer ſtärker hervortretende Gegenſaß der
Meinungen, der, längſt aus der Schule in das Leben übergegangen, Befugte und
Unbefugte, Befähigte und Unbefähigte auf den Kampfplas rief, und auch die Poeſie
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