Full text: A bis E (1. Band)

  
638 Deutſche Literatur îm Auslande 
für wahrhafte, ernſte Kritik verloren gegangen. Wie wäre es fonſt möglich, daß 
Leiſtungen, wie Tie>'s meiſterhafte Vorrede zu Lenz, die zu jeder andern Zeit ein 
lebhaftes Für und Wider hervorgerufen haben würde, faſt ganz unbeachtet und 
unbeſprochen bleiben konnte? Und doch gibt in der genaunten Vorcede ein Geiſt, 
der ſelbſt auf der Höhe der Kunft fteht, vielleicht das Gründlichſte, was in neuerer 
Zeit Über Göthe, deſſen Hintritt Deutſchland betrauert, geſagt worden iſt , die 
Frucht eines langen und liebevollen Studiums des Meiſters! — Wir haben 
Göthe genannt, und ſo kann dieſe flüchtige Überſicht wol niht würdiger ſchließen, 
als indem ſie in den Klageruf einſtimmt, der bei der Kunde von Söthe’s Tode von 
einem Ende des deutſchen Vaterlandes zum andern ging. Denn, wie Tauſende 
es erkannten, daß der Gedanke, der größte der neuern Dichter wandle noch, eín 
Lebender, unter uns, ſelbſt in der Zerriſſenheit noch einen Halt- und Mittelpunkt 
bot, fo müffen auch wir nun, da er geſchieden, fragen: Wer wird den Dahingeſchie- 
denen erfegen? in weſſen Namen und um weſſen Fahnen ſollen die Beſſern fich 
ſammeln? oder ſteht unſere Literatur daran, in dieſer Zeit des Kampfes und des 
Umſturzes anarchiſch in ſich zu zerfallen, um bei der vorherrſchenden materiellen 
Anſicht der Dinge, vielleicht ganz andern Beſtrebungen Raum zu geben? oder 
werden ſich aus dieſem Zuſtande, wie aus politiſchen Revolutionen zuweilen, neue 
hervorragende Geiſter erheben, denen die Völker zu dienen willig fein werden? — 
Wer vermag dieſe Fragen voraus zu becintworten! Doch vielleicht gilt mehr, als 
in der Sprache der irdiſchen Throne, irn Reiche der Geiſter der bekannte Spruch: 
Der König ſtirbt nicht! Und dieſer Spruch, der, auf die Literatur angewendet und 
recht verſtanden, unſtreitig eine große Wahrheit enthält, ſoll unſer Troſt und unſere 
Hoffnung ſein. (51) 
Deutſche Literatur im Auslande. Die gegenfeitige Annähe- 
rung der verſchiedenen Völkerliteraturen , die ſich ſeit den legten Jahren als Zeichen 
der Verheißung eines neuen Weltliteraturſyſtems immer entſchiedener angekün- 
digt hat, ſcheint ebenſo aus der Mitte und Tiefe deutſcher Kunſt und Wiſſenſchaft 
heraus ihren Ausgangspunft genommen zu haben, als die politiſchen Beſtrebun- 
gen und Auftegungen der Gegenwart aus ber überall wiederempfundenen Bewe- 
gung Frankreichs ſich allgemein in Europa mittheilten, und wenn franzöfifche Po- 
litik und Revolution dem bekannten Worte nad) die Reife um die Welt zu machen 
beſtimmt ſind, ſo iſt hinſichtlich der intellectuellen und geiſtigen Intereſſen des Ge- 
\chlechts für die deutſche Literatur die Zeit eines gleichen Ausdehnungs - und Wir- 
Eungskreifes, einer gleichen europäiſchen Univerſalität gekommen. Es hat zwar, 
ſo lange es Nationalliteraturen gibt, immer ein mehr oder weniger lebhafter Li- 
teraturverkehr zwiſchen ben gebildeten Völkern Europas flattgehabt, und man hat 
ſich Vieles nachüberfegt, in Inhalt oder Form glüdlich oder erfolglos angeeignet 
und auf eine oder die andere MWeife Sprache, Idiom, Sitte und Eigenthümlichkeit 
an einander gekbt und geprüft; aber diefe Literaturannäherungen waren nur nod) 
mehr individuelle Verſuche oder Beſtrebungen der Jnduſtrie, die einzeln blieben und 
nicht in die Nationalität als nachwirkende Stoffe eindringen konnten. Was engli- 
The Poefie weder in Frankreich, noch franzöſiſche in England in der neueſten Zeit 
gewirkt hat, geſchah jedoch durch den Einfluß der deutſchen Literatur ſeit den lezten 
zehn Jahren vornehmlich in den beiden genannten Ländern, indem dieſe, ihrem in- 
nerſten Weſen nach geiſtig und metaphyſiſ<h und mit den ergreifendſten Juter- 
eſſen des menſchlichen Denkens und Empfindens ſich beſchäftigend, nothwendig 
auch die Gewalt des Geiſtes, deſſen Natur es iſt, fortzeugend neue Richtungen 
hervorzurufen, immer bedeutſamer ins Ausland hinübertragen mußte , je mehr ſie 
von Franzoſen und Engländern ihrem wahren Umfang und Werthe nach aufge- 
nommen, anerkannt und durchdrungen wurde. Deutſche Literatur hat daher in Eng- 
land und Frankreich nicht nur Epoche gemacht, fondern auch auf dem heimiſchen 
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