642 Deutſche Literatur im Auslande
zeichneter Yuffag im „Edinburgh review”, 1877, Nr, 92, vortrefflich zu dienen,
der, zunächſt als eine Beurtheilung von Franz Horn's „Poeſie und Beredtſamkeit
der Deutſchen“ ſich gebend, doch zugleich, wie die meiſten Artikel dieſer Zeitſchrift,
ſelbſtändige Erörterungen über den Gegenſtand unternimmt, und unter der allge-
meinen Rubrik: „State of german literature“, die deutſche Literatur im Ver-
hältniß ihrer eignen Entwidelung fowol als in dem ihrer Ausbreitung, Anerken-
nung und Vorurtheile, die fie in England gefunden, betrachtet. Nachdem ber Verf.
zuerſt ein ſehr gutes und treffendes Urtheil über Horn's Schriftſtellercharakter ſelbſt
und die Eigenthümlichkeit feiner Kritik abgegeben, geht er ſogleich allgemeiner auf
die Vorwürfe über, die den Deutſchen und ihrer Literatur am häufigften in Eng:
land gemacht zu werden pflegen, und die er vornehmlich unter zwei Hauptpunften,
der Gefhmadlofigfeit (bad taste) und dem Myfticismus zufammen=
faßt. Bei der Rechtfertigung gegen den erſten Vorwurf, die er darauf mit vie-
ler Gründlichkeit und Sachkenntniß unternimmt, und worin ſich beſonders eine be-
geiſterte Anerkennung Leſſing's als des erſten Repräſentanten der Reinheit des
deutſchen Geſchmacks ausſpricht, entwirft er zugleich eine Uberſicht und Charak-
teriſtif der deutſchen Literaturgeſchichte und ihrer bedeutendſten Geſtalten, in einer
ſelbſt für den deutſchen Leſer nicht ſelten höchſt intereſſanten Weiſe der Auffaſſung.
Unter einzelnen Werken greift er vorzugsweiſe den „Wilhelm Meifter” und
„Fauſt“ heraus, um fie von dem auf ihnen haftenden und von engliſchen Kritikern
früher gegen ſie geltend gemachten Vorurtheil des bad taste zu befreien, und fügt
hinzu, daß zwei Nationen, welche in der Verehrung Shakfpeare’3 als des größten
aller Dichter Übereingefommen find, unmöglich in den weſentlichſten Intereffen
der Poeſie Überhaupt von einander abweichen können, wenn ſie ſih nur die Mühe
nehmen wollen, ſich gegenſeitig ganz und recht zu verſtehen. Als Grund dieſes .
bad taste pflegt man nicht ſelten die gedrü>te Lage der deutſchen Autoren anzu-
führen, von der man in England überhaupt noch immer abenteuerliche Vorſtel-
lungen hat, indem in allem Ernſte geglaubt wird, daß die Schriftſteller Deutſch-
lands, wegen ihrer gewiffermaßen zunftgemäßen Armuth, aller höhern Ausbil:
dung entzogen, durch ein ceremonial law of the country von jeber feinern Gefell-
[haft bei uns ausgefchloffen find, und deshalb, in niedrigen Häuſern und Ver:
hältniffen lebend, aus dieſem Grunde auch in a mean style ſchreiben und denken.
Dieſe lächerlichen Behauptungen, welche der Verf. des hier in Rede ſtehenden
englifhen Journalartikels ſo bündig widerlegt, daß jeder Deutfche damit zus
frieden fein fann, wurden jedoch erſt kürzlich im Märzhefte des „Quarterly review“
für 1332, bei Beurtheilung einer Schrift des Grafen von Munſter (eines
Sohnes Wilhelms IV.), mit neuen und wirklich bittern Bemerkungen wieder zur
Sprache gebracht, indem der Referent fi) mit dem weltmännifchen Charak-
ter ſeiner vaterländiſchen Literatur brüſtet und einen großen Werth darauf legt,
daß in England ſelbſt hochgeſtellte Perſonen von öffentlichem Range ſich der Feder
befleißigen, und fo einen Stoff neuer Wörter, Redeverbindungen, Bilder und Ge-
dankenwendungen aus dem eigenthümlichen Standpunkt ihrer Lebensverhältniſſe
heraus erzeugen, was einen ſehr wichtigen Einfluß auf die feinere und freiere Form-
geſtaltung der Literatur augübe, dagegen aber bemerkt: „Bei einem deu tfchen
Autor werden wir ſogleich gewahr, daß er einem Volk angehört, deſſen Literatur
ausfchlieglich nur eine Literatur der Gelehrten iſt; jede Zeile erinnert bei ihm an die
Claſſe pedantifcher Sonderlinge, welche ſelten das Mundſtú> ihrer gewichtigen
Meerſchaumpfeife von den Lippen bringen, außer wenn ſie das Katheder beſteigen,
um gähnende junge Leute mit metaphyſiſhem Qualm heimzuſuchen , der ungefähr
ebenſo erqui>end iſt als der ihres Tabaks. Kein Überſezertalent würde Ab-
handlungen von Friedrich Schlegel oder Novellen von Ludwig Tie den Leſern in
London und Paris mundrecht zu machen im Stande ſeinz ihr Inhalt , ſo koſtbar
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