690 Diplomatie
tigt haben: unter welchen Bedingungen und inwieweit die Staaten berechtigt
find, fi) in die innern Verhältniſſe anderer Staaten einzumiſchen (\. Inter:
vention), ſowie Alles, was auf die Rechte und Verbindlichkeiten der Staaten
unter einander Bezug hat. Hingegen dié Form, unter welcher die Staaten mit
einander verkehren , iſt der Gegenſtand der Diplomatie in der zweiten und eigent-
lichen Bedeutung. Das Völkerrecht felbft iſt einer wiffenfchaftlichen Behandlung
in dem höhern Sinne fähig, nicht fo die bloße diplomatiſche Form, welche in ihrer
höchſten theoretifchen Ausbildung doch nur eine Sammlung von Regeln und Er:
fahrungsfägen, in ihrer praktiſchen Vollkommenheit aber die Kunſt, Andere für
feine Zwe>e zu gewinnen oder ohne ihr Wiſſen zu gebrauchen, ſih ſelbſt aber ni»,
weder wiſſentlich durch Nachgiebigkeit , noh unbewußt durch Täuſchungen für
fremde Zwecke dienſtbar machen zu laſſen. Aus dieſer ungünſtigen, aber, wie ein-
mal die Sachen ſtehen, unvermeidlichen Stellung der diplomatiſchen Perſonen,
d. h. nicht bloß der Geſandten und ihrer Gehülfen , ſondern Aller, welche bei dem
Verkehre zwiſchen den Regierungen thätig ſind, entſpringt alles Nachtheilige, was
man der Diplomatie überhaupt nachſagt und welches mit den Schattenſeiten des
Advokatenſtandes ſehr große Ähnlichkeit hat. Man hat auch in der neuern Zeit
zu klagen nicht aufgehört, daß der Geiſt, welcher die Diplomatie beherrſcht , fich
nicht auf die Hôhe erhebe, welche die Wichtigkeit der Sache erfodere, und der wohl:
verſtandene Vortheil der Staaten (eine zur wahren Staatsweisheit ausgebildete
Politik) geſtatte; daß der Charakter der europäiſchen Diplomatie nicht in einem
Streben nach feſten Grundſägen der Gerechtigkeit und nach dauerhafter Begrün-
dung natürlicher Staatenverhältniffe beftehe, fondern in einem Ringen nach ſchein:
baren und vorübergehenden Vortheilen, Gebietsvergrößerungen , Handelsgewinn
und dergl. ; beſonders aber in dem vergeblichen Bemühen , künſtliche Einrichtun:
gen aufzuſtellen „, welche der naturgemäßen Entwickelung der Börlkerverhältniffe
entgegen ſind, ſodaß die Diplomatie ſchon mehr als einmal in den Fall geſeßt wor-
den iſt, ihr eignes kaum vollendetes Werk wieder zerſtören zu müſſen. Jn der -
That wird man ſich auch nicht verbergen können, daß, wenn die Diplomatie ihren
Zwe, der ganzen europäiſchen Welt den Frieden und einzelnén Ländern eine be-
ſtimmte bürgerliche Ordnung zu verſchaffen, häufig verfehlte, dies vorzüglich nur
darin gegründet iſk, daß fie jene hohen und heiligen Zwve>e theils zu materiell auf-
gefaßt, theils dur< Mittel zu erreichen geglaubt hat, welche nicht: wahren Völker:
frieden und nicht eine wahre innere Ordnung, ſondern nur den trügeriſchen Schein
derſelben hervorzubringen geeignet waren. Wahrer Friede iſ nur dann vorhanden,
wenn jedes Volk diejenigen äußern Güter befigt, welche zu verlangen és nicht dutch
eine künſtliche Aufregung , fondern durch ein natürliches und immer von Neuem
und mit größerer Stärke erwachendes Gefühl getrieben wird, umd rwelches dieſe
Güter find, ift ebenfo Teicht zu erkennen, als im Grunde auch ihre Gewährung
weder gefährlich noch übermäßig ſchwer ift, Aber es muß dabei die Überzeugung
vorausgehen, daß dieſe Güter mehr geiſtiger als materieller Natur find, und dieſe
Überzeugung iſt es, welche der neuern Diplomatie faft durchaus zu fehlen feheint.
Nicht etwa, daß es nicht unter den Diplomaten eine große Zahl hochgebildeter,;
mit wahrer Gelehrſamkeit ausgerüſteter, ebenſo geiſtreicher als redlih geſinnter
Männer gebe, fondern weil man überhaupt aus den höhern Kreifen allzu fehr jede
ernſte und erſchöpfende Behandlungsweiſe verbannt hat und die Meinung zu hegen
ſcheint, daß man mit einigen aus dem vornehmern Leben geſhöpften Erfahrun-
gen weiter komme als mit'den Reſultaten des tieférn Denkens, welches, von den
griechiſchen Philoſophen an, fo viele gute und mweife Männer zur Aufgabe ihres
Lebens gemacht haben. Nirgend wird das Streben nach wiſſenſchaftlicher Ex:
kenntniß und nach allgemeinen leitendeit Srundfägen fo verächtlich abgewiefen als
in jenen Kreiſen der‘neuerin Diplomatie, wo man der Philoſophie , wenn fie fich
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