806 Englands Geſehreformen der neuern Zeit
kes wird dadurch nur geſteigert. So erklärt es ſich, wie man die Urſache der Zöge:
zung in üblem Willen der Regierung und des Parlaments ſucht, und wie Mag:
regeln, welche für ſich feine, unmittelbare Abhülfe gewähren, doch von der öffent:
lichen Meinung mit Heftigkeit ergriffen und mic Beharrlichkeit durchgeſeßt werden,
wie die Reform des Parlaments, welche nur die Bahn zu künftigen materiellen
Verbeſſerungen brechen ſoll, ſelbſt äber keine Erleichterung verſchafft. Fſt aber einz
mal der Anfang gemacht, einzelne Theile des alten Staatsgebäudes umzubauen, ſo
führt der natürliche Zuſammenhang, in welchem alles Einzelne unter ſich und mit
dem Ganzen ſteht, unvermeidlich von einer Reparatur zur andern, und je länger
dieſelben verſchoben worden ſind, deſto weiter müſſen ſie ſich erſtre>en und deſto tie:
fer eingreifen. Einzelne Männer haben freilich fchon früher die Mangelhaftig-
keit der alten Einrichtungen und das Jrrige des Vorurtheils eingeſehen, welches in
dem Alterthümlichen einen Vorzug fand und der antiken Form das Weſen der
Sache nachfeste, oder fi und Andere damit täufchte, daß auch das völlig Un:
brauchbare nicht verbeſſert werden dürfe, weil es zu ſehr mit dem Ganzen verwach-
ſen ſei. Dieſe Scheu vor allen Reformen, ſelbſt den wohlthätigften, entſprang, wie
auch in andern Ländern, theils aus der trägen Unwiſſenheit, welche die Mühe der
Unterſuchung und noch mehr die Störung des gedanfenlofen Fortfchleicheng in den
gewohnten Gleiſen haßt, theils aber aus einem noch verwerflichern Motive, dem
ſelbſtſüchtigen Beſtreben, ſich die ungerechten Vortheile niht nehmen zu laſſen, zu
deren Gewinn ein Theil der Geſellſchaft die Mängel der Verfaſſung und Verwal-
tung benugt. Je nothmwendiger und vernunftgemäßer eine Reform iſt, deſto heftiger
iſt von dieſer Seite der Widerſtand, und nirgend konnte er größer ſein als in Eng:
land, weil nivgend die Vortheile größer waren, welche aus der Unvollkommenheit
der Staatseinrichtungen für einen kleinen Theil der Nation, nämlich für die Fa-
milien der großen Grundeigenthümer und des hohen Adels, entſprangen. Daher
hatten jene einzelnen Stimmen, ſelbſt wenn fie auch im Parlamente erhoben wur-
den, feine Kraft; man betrachtete ſie faſt als unſchuldige Ubungen, gutgemeinte
Thorheiten des Studirzimmers, der ſogenannten müßigen Köpfe, d. h. Derer, welche
aus dem Geſchäftsleben, aus dem Rauſche der Geſellſchaft und des Sinnengenuſſes
noch einige Zeit zum Nachdenken zu retten ſuchen, oder welche noch niht in den
Strudel des Weltlebens untergegangen ſind. So wurden früher die Anträge des
wadern Wilberforce zu Abſchaffung des die Menſchheit entehrenden Sklavenhan-
dels betrachtet, und ſo fämpfte Sir Samuel Romilly vergebens für eine, uns faſt
gering ſcheinende Verbeſſerung der bis zum Abenteuerlichen harten und verkehrten
Criminalgeſeze. Wenn auch im Hauſe der Gemeinen ein Sieg über das Veraltete
errungen war, ſo wurde er gewöhnlich in dem Oberhauſe wieder vereitelt, weil hier
noch mehr Mitglieder als dort durch das Intereſſe ihrer Familien und durch
Vorurtheil gegen jede Veränderung eingenommen find. Auch in dieſer Hin-
ſicht war es dem unvergeßlichen Canning vorbehalten, die erſte Bahn zu brechen,
wozu die glü>liche Vereinigung mit dem Grafen Liverpool und Sir Robert
Peel nicht wenig beitrug. Jn dieſer Verbindung des Uberwiegenden Talents
mit der Erfahrung und Beſonnenheit Liverpool's und der Rechtskenntniß Peel's
lag die moraliſche Kraft, welche dazu gehörte, einen Widerſtand zu überwin-
den, der um fo hattnädiger war, je weniger er ſelbſt von Elarer Einſicht und
gutem Willen ausging. Eine bloße Nebenſache war es dabei, ob die Reform der
Geſege durch eine Reihe einzelner Verordnungen oder in der Form umfaſſender und
ſyſtematiſcher Geſesbücher ausgeführt werden ſollte. “ Denn wenn fo viele ältere
Gefege durch neue erfegt werden, welche auf einmal und mit gehöriger Berückſichti-
gung ihres Zuſammenhanges entworfen werden und dabei dem Ganzen der Gefeg-
gebung einen völlig neuen Charakter geben ſollen, ſo iſt es wol gleichgültig, ob ſie
die äußere Geſtalt eines Geſezbuchs haben oder nicht; die Sache bleibt immer
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