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achſe bei dem Laufe unſers Planeten um die Sonne. Denken wir
uns zuvörderſt die Sonne gerade über dem Aequator ſtehend (,Aequi-
noftien‘) jo haben wir die Zeit der Tag- und Nachtgleiche; auf allen
Punkten der Erde giebt es dann Tage und Nächte von 12 Stunden
Länge. An den Polen ſelbſt und in ihrer nächſten Umgebung muß
aber auch dieſer Wechſel verſhwinden, denn die Grenzlinie zwiſchen
der hellen und der dunklen Exrdhälfte geht jeßt gerade durch die beiden
Pole; die Sonnenſtrahlen, welche auf den Aequator ſenkrecht auffallen,
ſtreifen oder tangiren beide Pole, und man würde alſo von jedem
Pole aus wenigſtens ein Stüd Sonne am tiefiten Horizonte ſehen
fönnen. Beide Pole haben alſo jezt eine Beleuchtung, wie am ſpäten
Abend oder frühen Morgen; erſt indem man ſih von den Polen ſelbſt
weiter abwärts nach den Polarkreifen zu verjeßt denkt und dadurch
einen gewiſſen Erdabſchnitt zwiſchen ſi<h und die Sonne bringt, kann
von einem Auf- und Untergange die Nede fein. Nun bleibt es aber
nicht bei der Tag- und Nachtgleiche, ſondern die Sonne geht von der
Frühlingsgleiche aus allmählig bis zum nördlichen Wendekreije vor;
gleich zu Anfange mußte ſie aljo dem Beichauer am Südpol entjchwin-
den, um erſt in einem halben Jahre wiederzufehren, während jie jeßt
den Nordpolarkreis immer weiter und zulebt bis zu ſeinem jenſeitigen
Rande, alſo völlig überſtrahlt. Die Zeit des Sommerjolititium iſt
jet eingetreten, und die Beleuchtung fängt nunmehr an, fich in der-
ſelben Weiſe vom Nordpolarkreis zurückzuziehen, wie jte bisher vor-
geſchritten war. Die Pole ſelb mit ihren nächſten Umgebungen ſind
jonach die Oertlichkeiten, wo das Jahr genau in einèn halbjährigen
Tag und in eine eben ſolche Nacht ſih ſcheidet. Fe weiter von ihnen
entfernt, um ſo mehr müſſen die Verhältniſſe Aehnlichkeit mit den uns
gewohnten gewinnen, u. das Thatſächliche iſt daher, daß man innerhalb
der Polarkreiſe, je nach Zeit u. Ort, alle möglichen Tages- u. Nachtlängen
antreffen kann; ja die Tage können ſo furz werden, daß Auf- u. Unter-
gang gleichſam in einen Moment zuſammenfallen, indem das leuchtende
Geftirn nur minutenlang am ſüdlichen Himmelsrande ſihtbar wird.
Der lange Tag im Norden ift deſſen Sommer, die lange Nacht der
Winter; andere Jahreszeiten giebt es niht; nur bezeihnen undurh-
dringliche Nebel, Schneefall, Regen und Stürme den Uebergang von
dem einen zum andern. Hat fich die Sonne hoch genug gehoben, jo
beſchreibt ſie fortwährend Kreiſe um den ganzen Horizont, erſt ſteigend
und dann wieder fallend; ſie ſcheint klar, in längli<h runder Geſtalt,
vom Horizonte her, aber ohne Glanz u. Feuer, u. läßt fich ohne Un-
bequemlichkeit mit bloßem Auge betrachten. Selten ſteigt in den höheren
Breiten die Wärme höher als 6° R.; die ſchönſte Zeit des nordiſchen
Sommers kommt etwa einem freundlichen Märztage bei uns gleich. Die
Tageszeiten machen ſih nux noh durch einen Wechſel in der Beleuchtung
einigermaßen bemerklih; um Mitternacht fteht die Sonne am tieſſten u.
leuchtet mit röthlichem Scheine aus Norden ; Waſſer, Eis u. Schnee jchim-
mern dann Stunden lang in violettem Lichte, ohne den ſtehenden Glanz,
mit dem ſie bei hoher Tageszeit ins Auge ſtrahlen u. der häufig Schnee-
blindheit erzeugt. Aber auch dichte Nebel ſind um die Mitternachtszeit
nicht ſelten, da die Wärme begreiſlicher Weiſe bei dem tiefern Stande der
Sonne abnimmt. Wer an den regelmäßigen Wechſel von Tag u. Nacht
gewöhnt iſt, für den hat dieſe ununterbrochene Kette von Tagen auf die
Länge etwas Aufregendes, wie faſt alle Reiſende bezeugen; man legt ſich
wol jchlafen, aber es fehlt doch die eigentliche wohlthätige ‚Nachtruhe‘.
Während dieſer Periode des Lichtes erwacht die Natur aus ihrem
ſtarren Winterſchlafe; der Schnee ſchmilzt an günſtig gelegenen Stellen
weg und eine dürftige Vegetation kommt zum Vorſchein; die nordiſche
Thierwelt zu Lande, im Waſſer und in der Luft entmwicelt ein regeres
Leben, Meeresſtrömungen - zerbrechen die Feſſeln, in die der grimmige
Froſt des Winters alle Gewäſſer geſchlagen, das Eis kommt in Be-
wegung, Buchten und Waſſerſtraßen öffnen ſi<h, Eisberge und Eisfelder
treiben in wärmere Meere herab, wo eine kräftigere Sonne ſie in das
flüſſige Element wieder auflöſt. Aber alles Dies iſ von kurzer Dauer;
die Sonne kann ſelbſt bei ihrem höchſten Stande jene Gegenden nur von
der Seite her beſcheinen, denn ſie kommt dort im Sommer nicht viel höher
herauf als bei uns im Winter; kaum hat ſie den Rückzug von ihrem
höchſten Stande angetreten, ſo fängt ihre Herrſchaft zu ſhwinden an,
u. ſhon in den lezten Juli- od. erſten Auguſttagen bildet ſih zur Nacht
wieder neues Eis, — der arktiſche Winter bricht ein. Starr u. ſchweigend
liegen Land u. Meer in den feſten Feſſeln des Froſtes; aber am Himmel
herrſcht ein \teter, oft lieblicher, oft großartiger Farben- u. Formen-
wechſel. So grau u. eintönig der Winterhimmel unſerer Breiten iſt, fo
mannichfaltig u. reich iſ der Himmel beim Wechſel der Jahreszeiten im
hohen Norden, u. dabei von einer außerordentlichen Wärme der Farbentöne.
Das reinſte u. tiefſte Blau des Himmels iſ geſäumt mit prachtvollem
Roth, Violet u. anderen immerfort wechſelnden Färbungen; phantaſtiſch
geſtaltete u. beleuchtete Wolken- u. Nebelgebilde, Luftſpiegelungen kon-
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traſtiren merkwürdig mit der darunter liegenden ſtarren Eis- u. Felſen-
welt. — Neben- u. Gegenſonnen u. -Monde, Höfe, Kreiſe, Kronen U.
ähnliche Erſcheinungen ſind an der Tagesordnung. Zuweilen ſcheinen
Sonne u. Mond gleich ſtark hernieder u. jegen durch die Vermiſchung
ihres Lichtes die Scene in eine magische Beleuchtung.
Nr. 777. Giswall.
Sit endlich auf den Fittigen der Schneejtiirme die lange Nacht heran
geraufcht, jo verwandelt fich die Scenerie in ein eigenthümliches Nachtitüc.
Das Thermometer ſinkt allmählig von etwa 20° R. immer tiefer, die Luft
wird klar u. rein, u. im Januar erreicht die Kälte die furchtbare Höhe
von 40-449. Bei 39° verſagt das Queckſilber ſeine Dienſte u. verwan-
delt fich in eine bleiartige Metallitange; nur das Weingeijt-Thernometer
bleibt brauchbar. Jett entfalten ſich die Wunder der Polarnacht in ihrer
Größe. Es iſt zwar Nacht, aber nicht von gleichbleibender Finſterniß. Die
Sterne ſchimmern in ungewohntem Glanze; der Mond wirft ſeiner Zeit ein
blaſſes, klares Licht herab; der hellglänzende Schnee trägt das Seine bei,
u. ſelbſt die Sonne finft nie jo tief unter den Horizont hinab, daß in den
beſuchteren Gegenden nicht wenigſtens zur Mittagszeit im Süden eine helle
Dämmerung einträte, die fich gegen Ausgang des Winters bis zur Tages-
helle fteigert. Dazu tommennicht jelten Nordlichter (.d.) u. gießen mit ihrem
magiſchen Lichte neuen Zauber aus über die ſchweigſame nord. Winternacht.
Zeigt ſich endlich für die im hohen Norden Ueberwinternden das lang-
erjehnte Tagesgeftirn, vielleicht im Februar, wieder über dem Horizonte,
jo iſt es immer noch lange hin, ehe die Eisfeſſeln um ein eingeſrore-
nes Schiff ſich löſen u. ihm im glüdlichen Falle ein freies Fahrwaſſer
öffnen oder im unglü>lichen einen nachträglichen Untergang bereiten.
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Nr. 778. Die drei Brüderthürme. Granitfelſen au der nördlihen Küſte von Grönland
Ja, es ſteigt ſogar in der Regel die Kälte nach dem Wiedererſcheinen der
Sonne infolge der nunmehr eintretenden ſtarken Verdunſtung u. dadurch
entſtehenden Abkühlung, u. dies iſt der zweite Grund der Schwachen Wirkung
der Sonnenſtrahlen im hohen Norden. Eis u. immer wieder Eis, von
allen möglichen Formen u. Zeitaltern, neues, ein- u. mehrjähriges U.
ewiges, umringt u. hemmt die Menſchenkinder, die in den Zauberkreis
des Nordens einzudringen wagen. Buchten, Meerengen u. Küſtenſtriche
überfrieren meiſtens vollſtändig, u. das Eis verſchwindet keineswegs
immer im nächſten Sommer. Das Meer gleicht dann einer unabſeh-
baren Schneejteppe mit abwechjelnden Erhöhungen u. Vertiefungen, oft.
von ſ<hmalen Kanälen durchſchnitten, die ſelbſt im Winter ein offenes
Fahrwaſſer bieten. Aber auh im offenen Meere kann ſi< Eis bilden,