Full text: A (1. Band)

  
  
  
  
  
  
995 Armenien 
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Armenien 994 
  
Armenien, umfaßt urſprünglich das Land vom Kaukaſus bis zum 
Urumiah- u. Wanſee u. vom Kaſpiſchen Meere bis nah Kleinaſien. Die 
Größe mag 6000 bis 7000 IM. betragen. Die Römer theilten es in das 
öſtl. Großarmenien u. das weſtl. Kleinarmenien. Jett iſt A. theils 
unter türkiſcher, theils unter ruſſiſcher, theils unter perſiſcher Herrſchaft. 
Der Name A. iſt durch die Araber gegeben, welche es Ermini nennen; 
die Eingebornen. bezeichneten es mit dem Namen Haiasdan. 
A. bildet ſeiner Bodengeſtalt nach eine abgeſchloſſene Hochlandsmaſſe, 
in deren Mitte der Ararat (j. d.) ſih erhebt. Die Tafelländer zwiſchen 
den einzelnen Bergketten haben eine Höhe von 1600 bis 2300 Mtr. Nach 
Weſten u. Süden nehmen dieſe meiſt baumloſen Hochebenen allmählig 
an Höhe ab. Die Bergketten, von denen vier ewigen Schnee tragen, 
ſtreichen ziemli<h zuſammenhangslos zwiſchen den Hauptſlüſſen hin. Das 
Land könnte mit ſeinem Reichthum an großen Seen wohl die weſtaſiatiſche 
Schweiz genannt werden. Die bedeutendſten unter dieſen Alpenſeen, 
welche 1300 bi3 2000 Mir. über dem Spiegel des Schwarzen Meeres 
liegen, ſind der Göktſcheſee im ruſſiſchen, der Wanſee im türkiſchen, der 
Urumiahſee im perſiſhen Gebiet. Unter den Gewäſſern, welche in A. 
entſpringen, ſind die bedeutendſten der Kur mit dem Aras, welcher ins 
Kajpijche Meer fließt, der Euphrat mit ſeinen beiden Quellſlüſſen u. der 
Tigris, welche ſih in den Perſiſchen Meerbuſen ergießen, u. der Tſchoruch, 
welcher, nördlih von Erſirum entſpringend, zum Schwarzen Meere eilt. 
Das Klima von Armenien gilt als rauh; es hat aht Monate Win- 
ter und zwei Monate Sommer. Ein Monat fällt auf den Frühling, 
einer auf den Herbſt. Auf den innern Hochebenen bleibt der Schnee 
mindeſtens ein halbes Jahr lang liegen, (es kann ſelbſt no< im Juni 
ſchneien) u. die Kälte ſteigt bis auf — 20° R. Die ſtarke Sommerhitze 
bringt dagegen in zwei Monaten das Korn zur Reife. Der Kontraſt 
zwiſchen Meſopotamien u. Armenien ift gewaltig. Während im April 
auf dem Hochlande dag friiche Grün kaum anfängt neben dem jchmel- 
zenden Schnee Plaß zu gewinnen, iſt in der Ebene faſt alles Kraut 
ſhon von der Sonnenglut verſengt. Die tieferen Gegenden A.s haben 
nod) Wein, Objt- u. Maulbeerbäume; in den höher gelegenen Gebieten, 
3. B. in Erſirum, gedeiht kein Obſt mehr, höchſtens etwas Gemüſe. Die 
Schneegrenze liegt am Ararat in 4200 Meter Höhe, an anderen Ge- 
birgsſtö>ken beginnt ſie ſhon bei 3400 Mtr. 
Die Pflanzenwelt beſchränkt ſich auf den Höhen über 1600 Mtr. meiſtens 
auf j. g. Alpenfräuter, unter denen die Pyretgrum-Arten für die Fabri- 
fation des perjifchen JFuſektenpulvers (f. d.) wichtig find. Unter- 
halb der Weiden beginnt bei 2600 Mtr. der Wald, namentlich reich an 
Birken, Buchen, Pappeln, Fichten, Eichen. Der Weizenbau ſteigt bis 
über 2000 Mtr. Der Wein bis 1370 Mtr. Der Alpenflor der arme: 
niſchen Hochgebirge, welcher bis zu 4000 Mer. Hoch dringt, ift von 
glänzender Farbenpracht, die ſich mit derjenigen dex Alpen ſiegreich meſſen 
kann. Unſer Obſt gedeiht in den Thalſohlen der Hochebene; Wein, 
Johannisbrotbaum, Olive, ſelbſt Baumwolle in den tieferen Thälern. 
Von dex Thierwelt ſind eigentlich nux Vierfüßler u. Vögel unterſucht. 
Man findet mannichfache Thiergeſchlechter vertreten, namentlih Bären, 
Füchſe, Wölfe, Luchſe, Murmelthiere, Biber, Lemminge; unter dem Fagdwild 
Hirſche, Büffel, Eber, wilde Schafe u. Steinböcke. An Hausthieren züchtet 
man Rinder u. Schafe, ferner Pferde u. Maulthiere, ſelbſt Kameele. 
Von Vögeln ſind zu nennen: Störche, Kraniche, rothe Gänſe u. Wachteln. 
Zahmes Geflügel trifft man zahlveich in den Städten u. Dörfern. 
Bevölkerung. Ueber die Zahl der Bewohner läßt fich feine beſtimmte 
Angabe machenz nah ihrer Abſtammung zerfallen ſie in Osmanlitürken 
u. Armenier. Das armeniſche Volk, ein Urvolk vom beſten Blut, hoch- 
begabt an Körper u. Geiſt, hat, wie wenige Völker, Jahrtauſende hin- 
dur< Bedrückung u. Sklaverei erdulden müſſen. Für die Sagen der 
Urgeſchichte der Menſchheit iſt A. das intereſſanteſte Land. Später ſind 
Perſer, Griechen und Römer hindurchgedrungen; dann eroberten es die 
Araber, u. die Wogen der Kreuzzüge ſ{hlugen bis an ſeine Berge. Hier 
war Jahrhunderte lang der Kampſplay der Schiiten u. Sunniten, jeßt 
des Chriſtenthums u. des Jslams. Die A. ſind das erſte Volk, welches 
in ſeiner Geſammtheit zum Chriſtenthum übertrat u. an ihm feſthielt. 
Jett wohnt nur noh ein geringer Theil des Volks in ſeiner Heimat. 
Die A. ſind von Ungarn bis nah Hinterindien verbreitet; aber ſie ſtehen 
mit der Heimat in der engſten Beziehung, fie haben noch in ihrem Vater- 
lande ihr nationales u. religiöſes Centrum, das Patriarchat von Edſchmi- 
azin auf ruſſ. Gebiet. Troß aller tragiſchen Schickſale der Heimat haben 
die A. treu an ihrem Vaterlande, an ihrer Sprache, ihren Sitten u. 
am chriftlichen Glauben feſtgehalten. — Die Armenier gehören zu den 
indogermaniſchen Völkern. Nach ihrem Körperbau kann man ſie zu den 
ſchönſten Menſchenſchlägen zählen, niht muskulös, ſondern zart gebaut 
u. durchweg brünett. Jm Aeußern zeigen ſie ſi< till, ſanft, mäßig, 
beſcheiden u. ungemein höflih. Jn Bezug auf den Charakter muß man 
wiſchen den Landbewohnern in ihrer Heimat u. den Kaufleuten in der 
Orbis pictus. I. 
  
  
  
Fremde wohl unterſcheiden. Dieſe gelten als betrügeriſh u. unzuverläſſig 
im Verkehr; eine Erſcheinung, die ſih bei allen unterdrü>kten u. zer- 
ſprengten Völkern beobachten läßt. Drud u. Armuth demoralifiren über: 
all. Doch Halten die A. zufammen u. unterjftügen einander. Und jelbit 
dieſe A. in der Fremde find in ihrem Haufe ehrenwerth u. zeigen alle 
häuslichen Tugenden. Außer den Juden giebt es fein Volk, das um 
ſeines Glaubens willen fo viel gelitten als die A. Aber der ſtarke 
innere Nationalverband hält fie aufrecht. Religion u. Nationalität 
ſ<hmelzen in einander, der Glaube iſt Nationalreligion. Der innere 
patriarchaliſche Verband des Volkes ſpiegelt ji) in der Familie ab; e3 
giebt wol fein Volk, in welchem die Familienbande feſter u. inniger 
wären als in A. Das Familienleben weiht aber von dem der andern 
aſiat. Völker weſentli<h ab in Bezug auf die Stellung des weiblichen 
Geſchlechtes, ſeine Gleichberehtigung u. Würde. 
  
      
    
Nr. 801, Armenier. 
Die Sprache iſ nach der Anſicht der A. ſelbſt uralt, da ſie von Noah, 
dem Urgroßvater ihres Stammvaters Haik, abgeleitet wird. Unſere 
Philologie (vergl. H. Petermann „Grammatica linguae Armeniacae““, 
Berol. 1837) hat nachgewieſen, daß ſie zum indogermaniſchen Sprach- 
ſtamme gehört. Man muß das Alt- u. Neuarmeniſche von einander 
unterſcheiden. Beide Sprachen weichen viel mehr von einander ab, als 
etwa das Stalienifche vom Lateinischen. Das Altarmeniſche bildet die 
Kirchenſprache, es iſt ungemein ausgebildet u. ſo biegſam, daß man ſelbſt 
die jchweriten u. abftrafteften Schriften in ihm wiedergeben kann. Das 
Neuarmenifche hat viele fremde, beſonders türkiſche, perſiſche u. latei- 
niſche Wörter aufgenommen. Daſſelbe zerfällt in viele Dialekte, doch 
gelten diejenigen am Ararat u. in Aſtrachan als die reinſten. Jn der 
heidniſchen Zeit hatten die A. keine eigne Buchſtabenſchrift, man bediente 
ſich der griechiſchen. Da erfand der heil. Mesrop, einer der bedeutendſten 
Armenier, um 406 das jetzige armeniſche Alphabet. Es beſteht, der vielen 
abweichenden Kehllaute u. Ziſchlaute halber, aus 38 Schriftzeichen. 
Die Literatux Armeniens beginnt mithin auh erſt mit Mesrop. Die 
Ueberjeßung dev Bibel wurde bereits im 3. 410 vollendet. Daran haben 
außer Mesrop auh Moſes von Khorene u. A. gearbeitet. Das 5. u. 6. 
Jahrh. iſt die Glanzepoche der armeniſchen Literatur. Sie war reich 
an Ueberſezungen namentlich theologiſcher u. philoſophiſcher Werke. Durch 
das nach dem Konzil von Chalkedon (451) ſi<h ausbildende Schisma 
wurde die Verbindung A.'s mit dem Abendlande gelo>ert, u. ſo ver- 
fümmerte in der Jſolirung auch die Literatur, bis im 13. Jahrh. ein 
neuer Aufſchwung eintrat. Auch dann verſiel ſie bald wieder. Jm 18. 
Jahrh. , meiſt duxr< Mechitar und die Mechitariſtenmönche, wurde ein 
nener Anstoß gegeben, durch Ueberjegungen die Kultur des Abendlandes 
nach Armenien zu verpflanzen; ſo ſind ſelbſt Fenelon's Werke u. Geßner's 
Jdyllen ins Armeniſche übertragen. Eine ſelbſtändige, nationale Lite- 
ratur Hat fich nur auf theologiſhem und hiſtoriſchen Gebiete entfaltet. 
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