Allgemeine Bewaffnung und Artilleriewefen. 107
da die Nachrichten fowohl über die dortigen Einrichtungen, als auch über die
Beweggründe zu den verfchiedenen Mafsregeln in Bewaffnungsfragen fich oft in
diredtem Widerfpruche befinden.
Sicher ift es, dafs die ruffifche Regierung, welche vordem Stahl-
gefchütze grofsen und kleinen Kalibers von Deutfchland bezogen hatte, um fich vom
Auslande unabhängig zumachen, vor einigen Jahren zwei Stahlwerke gründete, oder
auf eigene Rechnung übernahm, und nun diefelben mit Aufbietung grofsartiger
Mittel für ihren Bedarf befchäftigt. Sicher ift es weiters, dafs Rufsland mehrere Bat-
terien mit beringten Stahlrohren und eine ganz anfehnliche Zahl ftählerner 4- und
9-Pfünder älteren Modelles befitzt, fowie dafs die Werke zu Perm und Oboukhoff
für die Erzeugung beringter Feldrohre nach Gadolin’s Theorie eingerichtet find.
Während nun von der einen Seite behauptet wird, dafs Rufsland den Stahl als
Materie für Feldkanonen-Rohre gänzlich aufgegeben habe und wieder zur Bronce
zurückgekehrt fei, wofür der ausgeftellte 4-Pfünder zeuge, glaubt man auf der
anderen Seite das Erfcheinen diefes Gefchützes auf der Ausftellung dadurch
erklären zu können, dafs die früher genannten Stahlwerke im gegenwärtigen
Augenblicke mit Aufträgen auf grofse Rohre für Marine- und Küftenbewaffnung
derart überhäuft feien, dafs die Heeresleitung, welche für alle Fälle gerüftet fein
will, es vorzieht, die Ergänzung der Feldartillerie einftweilen auf dem fchnelleren
Wege der Herftellung von Broncegefchützen in den alten kaiferlichen Gefchütz-
fabriken bewerktftelligen zu laffen.
Wir find aufser Stande feftzuftellen, welche diefer beiden einander diametral
entgegengefetzten Angaben die richtige fei, und find daher der Anficht, dafs Rufs-
land dermalen als Beifpiel eines tonangebenden Staates weder von den Verthei-
digern des Stahls noch von jenen der Bronce benützt werden kann, nachdem die
näheren Umftände und Motive feines Vorgehens eben nicht zweifellos bekannt
find, und es Rufsland wahrfcheinlich nichts daran gelegen war, auf der Welt-
ausftellung einen Einblick in die zukünftige Geftaltung feiner Feldartillerie zu
ermöglichen. Es fcheint indeffen, als wären die Ruffen mit ihren Broncerohren
nicht fo ganz zufrieden, da fie diefelben durch folche aus Phosphorbronce erfetzen
wollen, mit welch’ letzterer fie zahlreiche Verfuche und, wie verlautet, mit nicht
ungünftigen Refultaten abgeführt haben.
Bleibt alfo Frankreich. Während des letzten Krieges, der bekanntlich
zum Verlufte beinahe der gefammten franzöfifchen Feldartillerie führte, wurde ein
broncener Hinterlader von ziemlicher Schwerfälligkeit (Laffete und Rohr wiegen
zufammen nahezu 1200 Kilogramm) erzeugt, welcher mit l/; gelchofsfchwerer
Ladung bis auf Diftanzen von 6500 Meter miteiner dem alten preufsifchen 6-Pfünder
gleichkommenden Genauigkeit fchiefst. Um auch ein leichtes Gefchütz zu haben,
conftruirte man hiezu eine 5-Kilogramm-Kanone,. die mit 1/7, gefchofsfchwerer
Ladung die Präcifion des alten preufsifchen 4-Pfünders befitzt, jedoch beträcht-
lich gröfsere Diftanzen erreicht. Diefe Gefchütze, welche in Frankreich blofs als
artillerie de tranfition gelten, mufste man eben herftellen, um nicht gänzlich
unbewaffnet zu fein. Dafs man Bronce nahm, ift erklärlich, nachdem fich kein
anderes Material fo gut für eine rafche und mit geringen technifchen
Hilfsmitteln ausführbare Gefchützerzeugung eignet. Aber trotz der Eile,
mit welcher an der Renovirung der Artillerie gearbeitet werden mufste, wurden
Verfuche zur Verbefferung der Bronce angeftellt, und errangen die von Laveiffiere
gegoffenen Gefchütze durch die gröfsere abfolute Feftigkeit, Härte und Elatticität
ihres Materials den Vorzug vor allen Anderen.
Die franzöfifchen Artillerieofficiere rechnen übrigens ungeachtet des ver-
hältnifsmäfsig guten Rohrmaterials bei den zu grofsen Anftrengungen der Rohre
aufkeine befondere Ausdauer derfelben.
Die Einführung von Stahlgefchützen ift daher in Frankreich nur mehr
eine Frage der Zeit, und der Entfchlufs hierzu bereits als feftftehend zu betrachten.
Es wird felbftverffändlich einige Zeit vergehen, ehe diefs Thatfache wird,