20 Dr. Carl Thomas Richter.
Blicke verfolgen und, ohne dabei betheiligt zu fein, nur Nutzen aus böfen und guten
Tagen ernten. Und durch geographifche Lage und hiftorifche Entwicklung faft
vollkommen abgelöft von Europa, konnte esin der Benützung aller Verhältniffe nur
reicher und mächtiger fich machen. Hat doch England in unferen Tagen, was man
auch fagen mag, den feine wirthfchaftliche Lage fo fehr bedrohenden Krieg Nord-
amerikas leichter ertragen und glücklicher überdauert als das ganze übrige Europa.
ja es wufste damit zum Theil felbft neue Vortheile zu ernten, indem es vom
amerikanifchen Baumwoll-Monopol fich befreite und die Produdion Oftindiens in
ungeahnter Weife entwickelte. Politifch mächtig und wirthfchaftlich reich, konnte
es die ganze Welt beherrfchen und hart und ftreng gegen die Feinde in Recht
und Gefchäft fein. Es dictirte der ganzen Welt Zölle und Handelsbefchränkungen
und forderte für fich Rechte und Freiheiten. Was die englifchen Colonien an
Linnen und Garnen vom Continente bezogen, mufsten fie aus englifchen Häfen
beziehen und 5 Percent Abgabe davon bezahlen. Deutfche Leinwand, die nach
England ging, unterlag einem Eingangszoll von 40 Percent. Gingen die Waaren
nach englifchen Colonien, vergütete man 30 Percent, da doch das deutfche
Fabricat nochauf anderem Wege nach Amerika dringen konnte. Aber noch im Jahre
1769 berieth das Parlament, ob man nicht einen Zoll von 40 Percent von allen
deutfchen Webwaaren erheben follte. Die Gefchichte bietet reiches Materiale für
diefe Handelspolitik und alle Staaten Europas haben fie tragen und dulden müffen.
War der Staat doch graufam und hart gegen feine eigenen Unterthanen und die
beften Glieder feines Reiches. William Ed. Hartpole Lesky enthüllt in neuefter
Zeit in feinen „vier hiftorifchen Effay’s“ die wirthfchaftlichen Leiden Irlands, „das
man der englifchen Induftrie opferte und für die Praffer an der Themfe zu Bettlern
mit Gewalt und Unrecht machte“. Ift es da ein Wunder, dafs das Land Alles, was
geiftige und phyfifcheKraft der Menfchheit gefchaffen, für fich in Anfpruch nehmen
konnte, dafs es alle Erfindungen nützen, den eigenen Erfindungsgeift kräftig
anfpornen und vor Allem die Entwicklung des Mafchinenwefens und die Erfindung
der Benützung der Dampfkraft zuerft mächtig für fich ausbeuten konnte. Hätte
Deutfchland ein anderes politifches Gefchick gehabt, als jenes, das die Blätter der
Gefchichte des XIV.und XV. Jahrhunderts verzeichnet haben, es hätte um Jahrhun-
derte früher als in England den Boden für eine grofsartige wirthfchaftliche Ent-
wicklung ebnen können, es hätte bei der Ausbeutung und Bevölkerung Amerikas
in erfter Linie geftanden, es hätte die Türken ohne Mühe zurückweifen können
und würde wie einft Schiffsladungen fertiger Waaren nach England und der übrigen
Welt ausführen. Aberfreilich ift die Frage zweifelhaft, ob Deutfchland auch mit
gröfseren Herrfchern und weniger romantifchen Fürften ausgerüftet, ein anderes
politifches Gefchick gehabt hätte, als es wirklich hatte. Ein Land, das das Herz
eines Welttheiles bildet, ift auch immer der Kampfplatz desfelben für feine Inter-
effen und Ziele. Aber gewifs hätten dem Volke Regierung und Regenten mehr fein
können, dafs es nicht, als der mächtige Gegner mit feinen Produdten und nicht mit
feinen Kanonen oderalser im fogenannten friedlichen Kampfe herandrängte, arm
und elend, bewufstlos und fchwach, ohne Strafsen, ohne Credit und Creditinftitute,
ohne Selbftverwaltung und Freiheit, ohne Einheit und Machtbewufstfein ihm
gegenüberftand. Doch die Blätter diefer traurigen Gefchichten find gefchrieben
und es find zum Glücke längft vergangene Gefchichten. Das XIX. Jahrhundert
hat auch Deutfchland wieder zu einem Reiche gemacht, und feine Arbeit, wie fie
im Innern mächtig und fchaffend anfchwellt, dringt nach allen Strafsen und
Wegen, die Handel und Erwerb eröffnet haben.
Es bleibt uns noch das Gefchick eines Volkes kurz zu kennzeichnen übrig,
ehe wir die wirthfchaftliche Bewegung des XIX. Jahrhunderts darftellen. Und diefes
Land fprach in den vergangenen Jahrhunderten noch eine laute Sprache, wie fehr
es heute auch zu erlahmen fcheint; wir meinen Frankreich. Die Kreuzzüge, das
früh entwickelte, auf altrömifchen Grundlagen errichtete Städtewefen, die Ordnung
der Arbeit in den Zünften, dann die dauernd regen, friedlichen und kriegerifchen
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