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10 Dr. Ferdinand Stamm.
deuten die fremdartigen Namen, womit die Italiener die Spitzen und das Spitzen-
machen bezeichnen, darauf hin.
Der Hauptgrund, warum die Spitze im Abendlande eine fo hohe Ausbil-
dung und weite Verbreitung fand, liegt wohl darin, dafs die Spitze nur durch die
Zeichnung ohne Rückficht auf die Farbe wirkt, alfo nur ganz weifs oder ganz
fchwarz, ja dafs fie gefärbt weniger beliebt ift; der Orientale hingegen will Alles
färbig haben, daher er das reine Weifs und das tiefe Schwarz in grofsen Flächen
meidet.
Die Spitze in ihrem wahren Wefen ift eine vom Stoffe abgehobene Zeich-
nung. Die Zeichnung ift entweder nur durch die einzelnen Fäden lofe aneinander
gereiht, wie Point coup€ Guipure und mehrere Arten der alten venetianifchen
Spitzen, oder fie hat einen fehr zarten weitlückigen Grund, welcher die Farbe der
Unterlage der Spitze nur etwas dämpft.
Das gefärbte Kleid, über welchem die Spitze getragen wird, oder auch die
noch zartere Unterlage des Teintes der Wange oder des Armes, den die Spitze
fchmückt, ift der eigentliche Grund, von welchem fich die Spitze als Ornament
abhebt.
Den Werth der Spitze beftimmt daher nicht fowohl der Stoff und die Farbe
als vielmehr die Schönheit der Zeichnung. Die Verfertigungsweife oder Technik,
welche die Schönheit der Zeichnung, ihren Schwung und ihre Abwechslung för-
dert und der Phantafie des Zeichners die wenigften Feffeln anlegt, ift daher auch
als die vorzüglichfte anzufehen.
Im Allgemeinen hat die Spitzenarbeit im Abendlande denfelben Weg der
Verbreitung gefunden, wie wir ihn für die Stickerei angedeutet haben, neben der
Hausinduftrie hat fich aber früher, als bei der Stickerei, die für den Handel arbei-
tende Gewerbsthätigkeit entwickelt.
Nach der Zeitfolge hat fie zuerft in Italien und Spanien, dann in Frankreich
und England geblüht und fich zuletzt in den Niederlanden und in einigen Gegen-
den von Deutfchland, hier befonders auf dem Erzgebirge, entwickelt.
Wenn wir die in der Weltausftellung 1873 ausgeftellten Spitzen nach ihrem
Range in der Volkswirthfchaft richtig beurtheilen wollen, fo müffen wir die Haus-
induftrie, die Erzeugung der Spitzen zum eigenen Gebrauch oder nur als Neben:
arbeit und die für den Handel beftimmte Gewerbsthätigkeit und Fabrication unter-
fcheiden.
Die letztere ift vorzugsweife in Frankreich, England, Belgien und in
Deutfchland entwickelt, in den anderen Ländern if die Spitzenarbeit auf der
Stufe der Hausinduftrie ftehen geblieben oder auch vor dem früher ausgebrei-
teten Handelsgewerbe auf diefe Stufe wieder zurückgegangen.
So hat Schweden fehr intereffante Spitzen aus Darlekarlien ausgetftellt,
welche, wie man uns fagte, feit Jahrhunderten in gleicher Weife die Frauen als
Nebenarbeit und meiftens zum eigenen Gebrauche verfertigen. Sie fpinnen fich
dazu den Flachs, weben das Gefpinnft und verfertigen daraus nach einer in frühe-
ren Jahrhunderten durch die Klofterfrauen eingeführten Weife Spitzen mit alt-
hergebrachten Muftern.
Es ift das die ausgezogene Arbeit, in Italien Punto tirato, in Frankreich
fls tires genannt. Durch das Ausziehen einzelner Fäden aus einem Gewebe wird
ein lückiges Netz gebildet und mit der Nadel werden dann die Fäden unter
einander verbunden und das Netz fo ausgefüllt, dafs fehr gefällige Ornamente
entftehen.
Noch eigenthümlicher find die ruffifchen Spitzen, die gleichfalls nur als
häusliche Nebenarbeit ausgeführt werden. Die Zeichnung befteht in einem vielfach
gewundenen Bande, das mit den Krümmungen des Wurmes Aehnlichkeit hat,
und das durch engeren und weiteren Spitzengrund zufammengehalten wird.
Eine entfernte Aehnlichkeit hat die Zeichnung mit der genuefifchen Guipure aus
älterer Zeit.
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