Full text: Aus einem Tagebuche des sechzehnten Jahrhunderts

  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
    
46 
feinen Kirchen nicht begnüge, er wolle den Dom und einige 
andere Hauptlirchen haben, und e3 blieb nicht? übrig, ala auh 
hierin nachzugeben. Mit abfichtlichem Gepränge wurde num der 
fatholiiche Kultus in der Stadt, die ſeiner lange genug ent: 
wöhnt war, wieder eingebürgert. Gab es auch, außer den 
wenigen patriziſchen Familien, die fich noch zu der alten Kirche 
hielten, Niemand unter den Einheimiſchen, der an ihm theil: 
nahm, es füllten ſih die Kirchen doch mit vielen Fremden, die 
der Reichstag und die Anweſenheit des Kaiſers in die Stadt 
zog. Auch gab man ſich, nah einer Notiz in unſerem Tagebuche, 
mit Erfolg Mühe, aus dem benachbarten Bayeriſchen, das nur 
dur< den Leh von der Stadt getrennt war, andächtige Scharen 
heranzuloden. Es gehörte zu dieſem Syſtem, daß alle höheren 
Feſte mit möglichſt auffallendem Glanze gefeiert wurden. So 
bewegte fih am Frohnleichnam ſeit langen Jahren zum erften 
Male wieder eine Prozeſſion dur< die Straßen. Der Kaiſer, 
der römiſche König, eine Menge der höchſten Herren aller 
Nationen folgten ihr, und, was Wolrad wie alle Proteſtanten 
am tiefſten kränkte, darunter auch Viele, die ſi< zu dem Evan- 
gelium befannten. Schon tags vorher war Feierabend durd 
die ftädtifche Polizei geboten worden, da die Prediger fid 
entjchieden weigerten, daS Feiertagsgebot von ihren Kanzeln zu 
verfündigen. in paar arme Weber, die fich unpafjende 
Aeuperungen über den „heidnifchen” Pomp der Prozeſſion erlaubt 
haben ſollen, wurden gefaßt und mit abſichtlicher Schauſtellung 
in Ketten durch die Straßen geführt. Es geſchah nicht bloß, 
wie das Tagebuch meint, nah der Maxime: dat veniam corvis, 
vexat censura columbas, oder deutjch: die kleinen Diebe hängt 
man, die großen läßt man laufen, ſondern es ſollten auch die 
corvi damit eingeſhüchtert werden, die freilich {on ohnehin 
Schre>en genug in den Gliedern hatten! 
Dieſe Frohnleichnamsprozeſſion war auh ein Stück des 
(638) 
  
  
  
   
  
   
  
  
  
  
  
  
     
  
   
  
  
     
     
  
  
  
  
  
   
    
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.