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Stabile, Labile Ströme. Querdurchströmung. Kap. XX.
Fälle feststehende Regeln gibt es nicht; im Gegenteil geht der Rat
aller vorurteilsfreien und erfahrenen Elektrotherapeuten dahin, bei
durchaus erfolgloser‘ Anwendung einer bestimmten Behandlungsart
dieselbe aufzugeben und eine andere zu versuchen: vorgefasste theore-
tische Meinungen mit 'starrer Konsequenz festzuhalten ist bei unserer
Unbekanntschaft mit so manchen notwendigen Prämissen nur ein Fehler.
Die polare Methode in der Behandlung muss offenbar für viele
Fälle, wenigstens bis heute noch, derjenigen das Feld räumen, wo es
uns darauf ankommt, die oben weitläufig besprochenen katalytischen
Wirkungen zu erzeugen: die Querdurchströmung, ja die oft
während der Sitzung einigemale zu verändernde Stromes-
richtung wird bei der Behandlung von Gelenk- und Muskelaffektionen,
bei Hirnleiden etc. nicht zu entbehren sein.
Lässt man die beiden Elektroden während der Zeit der Behandlung fest auf
den Punkten stehen, wo sie zuerst aufgesetzt worden sind, so ist dies in der Sprache
der Elektrotherapeuten die „stabile Anwendung“ des konstanten Stroms: ver-
ändert man aber den Standpunkt auch nur einer Elektrode, indem man mit ihr,
ohne sie von der Unterlage abzuheben, die Haut dem Verlauf einzelner Muskeln
oder Nerven entsprechend entlang streicht, so nennt man dies die „labile*
Behandlungsweise. Freilich kann dabei von einer Konstanz des Stromes
oder der Stromstärke nicht mehr die Rede sein: je nach den zufälligen
Widerstandsverhältnissen der verschiedenen mit der Elektrode bestriehenen Haut-
stellen wechselt diese Stromstärke; die so bewirkten Schwankungen derselben sind
dabei oft so beträchtlich, dass sie (ohne dass also der Strom je gänzlich unter-
brochen wird) ziemlich bedeutende Erregungen (Zuckungen) hervorrufen. Steht
bei Applikation des konstanten Stroms am Kopf die Anode an der Stirn, die
Kathode im Nacken, so nennt man dies einen absteigenden, bei umgekehrter
Stellung einen aufsteigenden Strom: ruht bei Galvanisation des Rückens die
Kathode an den Lenden-, die Anode an den Brust- oder Nackenwirbeln, so ist der
Strom absteigend, bei der umgekehrten Polapplikation aufsteigend; das Rücken-
mark ist im Vergleich zum Plexus der mehr central gelegene Teil, der Plexus
wieder centraler als der Nerv, dieser mehr central als der Muskel; ruht also die
Anode am Vastus internus, z. B., die Kathode am ersten Lendenwirbel, so ist dies
in der bequemen Ausdrucksweise mancher Elektrotherapeuten ein aufsteigender
Muskel-Rückenmarksstrom: ist die Anode in der Oberschlüsselbeingrube
über dem Plexus brachialis, die Kathode in der Grube zwischen Condylus int. hum.
und Olecranon applizirt, so wäre dies einabsteigender Plexusnervenstrom,
Ausdrucksweisen, welche als schnell über die Stellung der Elektroden orientirende
und damit bequeme Bezeichnungen von vielen Elektrotherapeuten noch heute ange-
wendet werden.
Ebensowenig aber wie man sich auf nur eine Methode der Be-
handlung zu beschränken hat, ebensowenig tut man, dem Buchstaben
folgend, allemal gut, nur den erkrankten Teil selbst zu behandeln:
hat eine genaue Untersuchung gezeigt, dass die Möglichkeit eines