Full text: Die weiße Frau

  
Im Engadin trauert man heute noch weiß, wie man es noch gegen 
Ende des vorigen Jahrhunderts au< auf dem katholiſchen Eichsfelde®) 
beobachten konnte. Die Farbe der weiblichen Trauerfleidung war in der 
erſten Hälfte des vorigen Jahrhunderts überall in den eichsfeldiſchen 
Dörfern in erſter Linie die weiße. Erſt in der zweiten Linie kam die 
\<warze. Bei Beerdigungen trugen in Dem eichsfeldifchen Dorfe Obernfeld 
die verheirateten Frauen bis zum dritten Grade der Verwandtſchaft ein 
weißes Trauerlafen um die Schulter, das eine Länge von etwa einem 
Meter hatte. Es war weiß und in Pliſſéform geſtärkt. Den Kopf bede>te 
ein weißes, ſteifgeplättetes Leinentuch, das die Stirn bis zu den Augen 
verhüllte und vom Hinterkopf etwa zwei Fuß lang herabfiel. Es gab dem 
Kopfe ein nonnenhaftes Ausſehen. Dieſes weiße Trauerktopftuch war fechs 
Wochen lang bei allen gottesdienſtlichen Gelegenheiten zu fragen, dann 
trat an ſeine Stelle die ſchwarze Spizenhaube. Eine weiße Mügte ſtatt 
der ſonſt üblichen roten tragen bei tiefer Trauer die Mädchen im heſſiſchen 
Hinterlande.”) 
Eberhard, der in der „Berlinifchen Monatsfchrift” (1783) L, 3ff. „Über 
den Urſprung der Fabel von der weißen Frau” eine ung zwar unannehmbare, 
echt auffläreriſche Erklärung gibt, zieht jedoch mit Recht für das Erſcheinen 
der Weißen Frau bei Hofe die weiße Trauerfarbe heran. Er ſchreibt S. 13: 
„Die Geſchichte ſagt uns, daß in den mittleren Zeiten die Trauer einer 
Fürſtin und Königin um ihren verſtorbenen Gemahl in einer weißen 
Tracht beſtand.“ Er führt Beiſpiele vom ktaſtilianiſchen und beſonders vom 
franzöſiſchen Hofe an. Die fürſtliche Witwe nannte man nach ihrer Trauer- 
Heidung „Weiße Frau“. Solange die fürſtliche Witwe lebte, befand fi) 
eine weiße Frau oder eine weiße Königin am Hofe. Wenn auch die weiße 
Trauer der fohwarzen Plab gemacht habe, fo habe man in Frankreich doch 
länger weiß gefrauert, 4. DB. noch die Witwe Heinrichs IIL habe ihren 
Gemahl weiß betrauert. Und im Gloſſarium Carpentiers ſtehe unter dem 
Wort Blanca, daß die franzöſiſche Königinwitwe „La Reine Blanche“ 
geheißen habe. In dem von Carpentier niht erwähnten „Roman du 
Chevalier aux Cygnes“, der wohl aus dem XIV. Jahrhundert ſtammt, 
wird die verwitwete Königin ebenfalls „La Royne Blanche“ genannt, 
jedoch nicht zum Andenken an die Königin Blanca, die Mutter Ludwigs 
des Heiligen, deren Name Clementia war, fondern eben der Trauerfracht 
wegen. Darum bedeutet nad) Eberhard die Nedensart: „Die Weiße Frau 
wird bald bei Hofe erſcheinen“ nichts anderes als: „Es wird bald eine fürſtliche 
Witwe am Hofe ſein, es wird fich alſo bald ein hoher Todesfall ereignen“. 
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