Full text: Die weiße Frau

  
Der einſt in Deutſchland allgemein geübte Brauch, die im freien Feld 
Geſtorbenen oder Ermordeten dur< Dorugeſirüpp abzuſperren und feſt 
zu machen, wird ähnlich von den Bewohnern Borneos und anderen Wilden 
geübt: ſie umzäunen ihre Grabſtätten mit ſpizen Pfeilen, um die Wiederkehr 
der Toten zu verhindern.) Ähnlich ſpannen die malaiiſchen Pantani 
über das Grab ein neßartiges Geflecht aus Baumwollgarn, um den 
Seelengeiſt einzuſchließen. Mit Neben umgeben auch chineſiſche Stämme, 
die Tibetaner und ferner Peruaner die Gräber oder die Leichen. Wenn 
in manchen Gegenden Deutſchlands, 4. B. in Anhalt) eine Vorliebe 
beſteht, Friedhöfe mit Dornenhe>en zu umgeben, ſo mag no< ein Zu- 
ſammenhang mit dieſen alten Vorſtellungen beſtehen. 
Der urſprüngliche Grund, mit Hilfe eines {weren Steins die Toten 
ins Grab zu feſſeln, verſank mit der Zeit unter criſtlihem Einfluß im 
Unterbewußtſein, wenn auch nicht überall glei<hmäßig. Denn no< in 
neuerer Zeit legte man in Heſſen18), Me>lenburg11®), Anhalt!29) auf das 
Kopfende der Gräber auch ehrlich Verſtorbener große Steine und Find- 
linge. Überall aber wurde der urſprüngliche De>ſtein zum Denkſtein, der 
aufgerichtet und beſchriftet wurde. Daß hier eine Nachwirkung der prä- 
animiſtiſchen Denkweiſe, wenn auch in völliger Umdeutung, vorliegt, iſ 
natürlich den meiſten Chriſten unbekannt. 
Die Vorſtellung, daß die Toten ein geheimmisvolles, ganz körperlich 
gedachtes Leben weiterführen und deswegen materielle Bedürfniſſe haben, 
iſt ebenfalls noch nicht erloſchen. Die Grabbeigaben werden, auch wenn 
fie als „abergläubiſh“ empfunden werden, no< heimli< in den Sarg 
gelegt. Wie die alten Ägypter den Toten Barken beigaben, um ihnen die 
Fahrt ins Totenreich zu erleichtern, ſo werden den in den Sarg gelegten 
Verſtorbenen noh heute gute neue Schuhe und Strümpfe, Geld, Reiſe- 
utenfilien 122) in Thüringen auh Arzeneien mitgegeben. Der Tote führt 
das Leben im normalen Zuſtande weiter und zwar als Geſpenſt. Was bei 
uns in der Sage bezeugt iſt und im heutigen Volksglauben von dieſen 
Vorſtellungen noch lebt, das wird bei primitiven Naturvölfern als volle 
Wirklichkeit allgemein beachtet. Die Übergänge von Sage zu geſchicht- 
licher Wirklichkeit in Vergangenheit und Gegenwart ſind oft fließend. 
Wie die altgermaniſchen Krieger ihre Waffen mit ins Grab bekommen, 
um weiter kämpfen zu können, wie der thüringiſche Pfarrer ſeine Bibel 
erhält, damit er fie auch im Grabe leſen könne, wie der Seifenſieder und 
der Geiſtliche den Lebenden in den Weg treten und ihnen unſanft und derb 
zuſegen, ja Ohrfeigen austeilen,2) ſo verprügeln fich zwei ehemalige 
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