Full text: Die weiße Frau

    
Geſchöpf der naturverbundenen Menſchen, welche unfaßbare Naturgebilde 
wie den ſich in luftige Geſtaltungen auflöſenden Nebel als naturmythiſches 
Gebilde, als perſonifizierte Naturkraft oder ſogar als vergöttlichtes Weſen 
anſahen. 
Wie überhaupt Mythologie und Religion vielfach den Volksglauben 
als Untergrund haben, jedenfalls in gegenſeitigem Austaufch ihrer Anz 
\chauungen ſtehen, ſo hat die in der Natur, auf Ruinenſtätten und in Häuſern 
umgehende Weiße Frau au< manchen Zug gemein mit den nordiſchen 
Schidfalsgöttinnen, den Nornen, und mit den altnordiſchen Fylgjen und 
ferner mit den Vegetations- und Seelendämonen Holda (Frau Holle) 
und Perchtha (Perht)!5): als Schaßhüterin und -ſpenderin, als Kinder- 
bewahrerin und Kinderfchred, als helfende und Schidfal kündende Macht 
und \{ließli< als Todesbotin und Todesgeftalt. 
Iſt auch die mythologiſche Problematik in der Sagenforſchung heute 
nicht mehr beliebt und werden, wie Friedrich Ranke!*®) mit Recht betont, 
die literarhiſtoriſchen Fragen als entſcheidend angeſehen, bei der Sage von 
der Weißen Frau ift eine folch’ innige Verbindung von Volksglauben, 
Mythologie und Religion feſtzuſtellen, daß wir auch dieſe Gebiete zum 
Verſtändnis der Sage heranziehen mußten. 
Wenn man bedenkt, daß man fih nach altnordifhem Voltksglauben 
die mit den weißen Frauen verwandten Fylgjen in den menfchlichen Körpern 
wohnend dachte, daß fie ald Schußgeifter die Menfchen begleiteten und daß 
befähigte, machtbegabte Menfchen fie auch wieder aus ihrem Körper ſenden 
fonnten, wird man fich nicht wundern, daß die Weiße Frau auch Ber 
ziehungen zu den ſpiritiſtiſchen Kreiſen unſerer Tage angeknüpft hat, deren 
Geiſter ja auch in ſhemenhafter Materialiſation aus dem Dräger kommen 
und den Schauenden als kindliche, gequälte, harmloſen Schaberna> trei- 
bende Mächte erſcheinen. Aus Thomas Manns Darſtellung feiner offulten 
Erlebniſſe in der Neuen Deutſchen Rundſchau (März 1924), weiteren 
Kreiſen au< durch ſeinen „Zauberberg“ bekannt geworden, — ganz zu 
fchweigen von der fpiritiftifhen Nomanliteratur wie etwa Nenafa, „Die 
Weiße Frau. Ein Buch vom Wandern ruhelofer Seelen”, Prana-Verlag, 
Berlin 9. $. — wird erfihtlich, wie fi die Befchwörung der Toten auch 
noch heute nicht nur auf die Seele, ſondern auf eine mehr oder minder 
feine, faſt ſpiritualiſierte Materie erſtre>t. Das Volk deutet die Myſterien 
einfacher in ſeinen Sagen und Geiſtergeſchichten; das Myſterium, das Rätſel, 
das die größte Rolle im menſchlichen Leben ſpielt, iſt der Dod, ihn kann 
das Volk nicht als Ende begreifen; für das Volk leben die Toten weiter, 
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