50 KREIS OFFENBACH
verloren. dass der Oberbau, welcher aus einer Bekrönung von Fialen, Wimpergen
und Laubornamenten bestand, schon «vor Jahren einer Empore hatte weichen
müssen, die bei der letzten Restauration der Kirche glücklich wieder beseitigt
wurde. Die Kniebänke und Sitzreihen des Gestühles sind unversehrt und nehmen
nach hergebrachter Weise die beiden Seitenwände des Chores ein. Die Schnitze-
reien an der südlichen Abtheilung verrathen eine geschickte Meisselführung. Kauernde
Menschen- und Thiergestalten scheiden die Sitze und dienen als Stützen der Arm-
lehnen. Die Ruhekonsolen, die sogenannten Misericordien an den Klappsitzen,
bestehen aus Ornamentknäufen im Vegetativstyl. An der Rückwand enthält ein
von reichem Laubwerk umzogenes Wappenschild zwei durch einen gewellten Schräg-
balken abgetheilte sternförmige Rosetten mit je vier Strahlen im tinkturlosen Felde.
Auf einem Spruchband daneben steht die Jahreszahl 1515. Die Stirnwand der
Kücklehne zeigt eine bartlose Relieffigur im Mönchshabit. Auf der Kapuzze sind
die Worte ELIAS PROFET und die Jahreszahl 1514 eingeschnitten. Diesem
Relief entspricht an der Stirnwand des Betpultes die Figur eines zweiten Propheten
mit wallendem Haar und einem weitem Gewand, das an die Schaubentracht des
ı5. Jahrhunderts erinnert. An der unteren Stirnwand erscheint in kraftvoller Dar-
stellung der h. Christophorus, welcher das Jesuskind auf der Achsel trägt und
durch die Wellen eines Flusses schreitet. Das Getäfel der Innenseiten ist an ver-
schiedenen Stellen mit Ornamentfüllungen von Aehren und Weinranken als Sym-
bolen der Eucharistie geschmückt. Auf der Höhe, wo der verschwundene Ober-
bau ansetzte, bricht das geschnitzte Getäfel ab und lässt nur noch eine Bandver-
schlingung erkennen mit dem Inschriftrest venientes in mundo« und der Jahres-
zahl ı514. Alles Figürliche hat den realistischen Schilderungston der Zeit. Das
Örnamentale ist durchweg, besonders in den beweesten Verästelungen, von meissel-
fertiger Technik. Die nördliche Abtheilung ist etwas einfacher gehalten. Nicht
kauernde Figuren von Menschen und Thieren, sondern kleine Spiralsäulen scheiden
hier die Sitze und tragen die Armlehnen. Wie am südlichen Gestühl sind auch
hier zwei Prophetengestalten in Relief auf die Stirnwände eeschnitzt. Wäre nicht
die vorerwähnte Figur des Elias ausdrücklich mit Namen bezeichnet, man könnte
versucht sein, die beiden Figurenpaare für Darstellungen der vier grossen Propheten
zu halten. An den Lehnen und Wandungen ziehen theils Achrengewinde und
\Weinranken, theils luftige Fischblasenbildungen hin. Ueber dem oberen Klappsitz
erscheint an der Rückwand und umgeben von Blätterwerk und Verästelungen eine
Madonna als Kniestück über einer Mondsichel. Maria umfasst mit beiden Händen
das göttliche Rind, welches mit der Linken die Wange der Mutter berührt und
in der Rechten eine Birne hält. Dem Schnitzer lagen bei der Vollführung seines
Werkes offenbar A. Dürer’ s Madonnen-Kompositionen in der Erinnerung. An der
Lehne der Kniebank ist ein von zwei Rüden flankirtes, gevierteltes Schild ange-
bracht mit dem Mainzer Rad und dem Wappen des Hauses Gemmingen in den
Feldern. Darunter zieht auf einem Spruchband die Inschrift hin: NACH CHRISTI
GEPVRT MCCCCCX IAR. MARI(I)A BIT FVR VNS. Hiernach scheint der Erz-
bischof Uriel von Gemmingen (1508—13514) die Errichtung des Chorgestühls, viel-
leicht als dessen Stifter, veranlasst zu haben.