WIMPFEN A, B. 73
grund gestaltet sich als lichter Wiesenabhang mit einer Felsgruppe; die Hintergründe
sind golden. Der Erlöser neigt im Verscheiden das dornengekrönte Haupt. Aus
den Wundmalen an Stirne, Brust, Händen und Füssen träufelt Blut herab. Der
Körper ist hager, das Lendentuch wie vom Winde bewegt. Das Kreuzholz mit den
bekannten Lettern f-n-Y-i- hat die ältere Gestalt des sogenannten Tau -Kreuzes
in Form der griechischen Majuskel T. Maria und Johannes stehen zu den Seiten des
Kreuzes, an dessen Fuss ein Todtenschädel liegt. Die Madonna, mit dem Ausdruck
tiefen Herzeleids im jugendlichen Antlitz, hat die Augen niedergeschlagen und die
Hände auf der Brust gekreuzt. Von ihrer Stirne weht ein weisser Schleier hernieder;
der grüne Mantel und das karminrothe Gewand sind edel drapirt und frei von den in der
Bildkunst der Epoche konventionellen knitterigen Brüchen. DerLieblingsjünger erscheint
baarhäuptig mit wallendem Lockenhaar; sein Blick ist aufwärts gerichtet; die Hände
halten ein halbgeöffnetes Buch; der Wurf des die ganze Gestalt einhüllenden tief-
rothen Mantels hat manches Schwerfällige. Künstlerisch kommt der Madonnenfigur
entschieden der Preis in der Gruppe zu; sie ist einer Meisterhand würdig, wenn man
von der etwas gezierten Stellung der mit schwarzen Spitzschuhen bekleideten Füsse
absieht. — Die Innenseite des Korporaliendeckels enthält einen Vorgang aus der
Leidensgeschichte: die Scene der Dornenkrönung und Verspottung Christi.
(Fig. 34,a.) In einer das Richthaus des Pontius Pilatus zu Jerusalem versinnlichenden
Halle, mit Rundbogeneingang und einem Fensterpaar mit goldenem Lichteinfall, ist
der Erlöser als Schmerzensmann auf einer Steinbank sitzend dargestellt. Die Stirne
umgibt eine grüne Dornenkrone; im Antlitz webt Schmerz und Ergebung zugleich.
Eine goldene Zierscheibe hält den von den Schultern fliessenden Purpurmantel auf
der Brust zusammen. Die übereinander gelegten Arme sind oberhalb der Hand-
gelenke mit Stricken gefesselt. Zwei Peiniger drücken mit Stäben die Dornenkrone
gewaltsam auf das ehrwürdige Haupt voll Blut und Wunden; zwei andere Schergen
verhöhnen knieend den göttlichen Dulder als König der Juden, indem ihm der Eine
anstatt des Scepters ein Rohr darreicht, während der Andere mit hässlicher Geberde
seinen Spott auslässt. Im Hintergrund erscheint der vornehm kostümirte Landpfleger
als Zuschauer des peinlichen Vorganges. Komposition und Farbengebung des Ge-
mäldes — wovon der Lichtdruck leider eine genügende Vorstellung nicht gewähren
kann — lassen erkennen, dass hier keine gewöhnliche Hand Stift und Pinsel geführt.
— Noch bedeutsamer in meisterlich künstlerischem Betracht ist das die innere Grund-
fläche des Schreines einnehmende, bluttriefende Christushaupt (Fig. 34b) in der
Auffassung als vera icon d.h. als wahres Erlöserbildniss gemäss der Legende,
wonach die heilige Veronika — auch Berenice und Bernika genannt — dem kreuz-
tragenden Heiland mit ihrem Schleiertuch das Antlitz abtrocknete, welches in Folge
dessen auf dem Tuche als Abbild erschien. Die Zeichnung des dem frühchristlichen
Christustypus entsprechenden Hauptes ist fest und sicher ; der Blick schaut offen, gross
darin. Die dem hehren Augenpaar entquellenden Zähren sind gleich Thautropfen
mit Klarheit und Durchsichtigkeit wiedergegeben; die Karnation ist blühend und wie
aus einem Guss entstanden. Von goldenem Hintergrund hebt sich das feine, weisse
Schleiertuch ab, dessen im Viereck geglättete Falten auf den Zweck des kunstreichen
Schreines anspielen. Am oberen Rande des Goldgrundes steht die Jahreszahl 1488