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WIMPEEN I. TH. 223
Das Portal der Transsept-Schauseite (Fig. 127) erweckt weit mehr durch seine
plastische Ausstattung als durch seine Architektur kunstwissenschaftliches und künst-
lerisches Interesse. Der Bau, 8,25 m hoch, 4,70 m breit, wird von zwei Pfeilern in
Gestalt hochragender Fialen flankirt, an denen die Vorderflächen der Fialenleiber als
pilasterartige, spitzbogige Rundstabnischen vertieft sind, worauf die Fialenriesen
bossengeschmückt aus kleinen Giebelungen hervorwachsen. Die eigentliche Portal-
umfassung baut sich als gelaibte Spitzbogenhalle mit breit gelagerter Giebelbedachung
auf, an welcher die Bossenverzierungen in Form halb erschlossener Knospen leicht
bewegte Reihen bilden. Die Portallaibung zeigt zwei breite Hohlkehlen, die sich bis
zum Bogenschluss fortsetzen. Fin Mittelpfosten theilt den Eingang, über dessen
Horizontalbalken das Tympanon sich einfügt. Die tektonische Gestaltung tritt hier
merklich zurück und bleibt gewissermaassen auf einen grossen Nischenbau einge-
schränkt, um darin dem Reichthum bildnerischen Schmuckes zu seiner vollen Geltung
zu verhelfen.
Als Haupt- und Mittelpunkt der Portalskulpturen ist das die Bildfläche des
Tympanon ausfüllende Hochrelief des Opfertodes auf Golgatha anzusehen, ein Werk,
worin der Stil frühgothischer Plastik klar und bestimmt ausgeprägt erscheint, mag
immerhin in der Körperbehandlung manches Unfreie, Befangene liegen. Der ge-
kreuzigte Heiland ist im Verscheiden aufgefasst. Das dornengekrönte Haupt neigt
sich nach der rechten Schulter; die Haltung des ermatteten Körpers deutet auf das
entschwindende Leben. Die ausgespannten Arme sind etwas lang gerathen; die
Füsse liegen schlaff übereinander und berühren den Boden. Oberhalb des Kreuz-
armes mit der Pilatusinschrift schwebt ein Engelpaar heran. Die Himmelsboten sind
mit Tuniken bekleidet und falten in Andacht die Hände. Unmittelbar zu den Seiten
des Marterpfahles stehen zwei Frauengestalten, deren lange Gewänder in reinem
Faltenwurf herabfliessen. Die Frauenfigur rechts hat den Blick zu dem leidenden
Menschensohn emporgerichtet; das lockenumwallte Haupt schmückt eine Krone; die
Rechte trägt den Kelch des neuen Bundes; die Linke hält eine wehende Siegesfahne: es
ist die Allegorie der triumphirenden Kirche. Die Figur links zeigt das Bild einer
kraftlos hinsinkenden Frau mit einer Binde um die Augen als Symbol der Blindheit
vor dem aufgegangenen Lichte des Heiles; das Haar ist aufgelöst; die vom schwan-
kenden Haupte herabgefallene Krone liegt am Boden; der Linken entgleiten die
mosaischen Gesetztafeln ; die Rechte greift ermüdet nach dem geborstenen Herrscher-
stab mit zerzaustem Wimpel: es ist die Allegorie der Synagoge im Sinne der Pro-
phetenstelle: Wenn der Erlöser naht, weicht das Szepler von Juda. Neben diesen
Figuren stehen weiterhin unter dem Kreuze die Muttergottes einerseits und Johannes
Evangelista anderseits. Die Züge der gebeugten Madonna sind erfüllt von Schmerz-
gefühl; die über der Brust demüthig gefalteten Hände verrathen fromme Ergebung
in den göttlichen Willen. Der Lieblingsjünger des Herrn trägt als Attribut seines
Apostolats das Evangelienbuch; das gedankenvolle Haupt ist auf die Rechte gestützt,
ein in der mittelaltrigen Kunst, besonders in der Miniaturmalerei bevorzugtes Aus-
drucksmotiv für tiefes Nachsinnen. An beiden Gestalten fallen die Draperieen breit
und voll. Die langgewandeten kleinen Eckfiguren an den Seiten des Bogenfeldes
haben die Hände erhoben und schauen anbetend zu dem sterbenden Erlöser empor;
Südportal
Architektonisches
Südportal
Tympanon