Full text: Ehemaliger Kreis Wimpfen (A, [3])

  
Oratorium 
Nordflügel 
284 EHEMALIGER KREIS WIMPFEN 
poetisch verwerthet hat. Diess geschah in seinem Gedicht »Das Vogelnest« durch 
folgende Verse: 
»An eine Kirche kam ich einst zu wallen, 
»Mit Klosterzellen, längst verlassenen Hallen . 
»Der Kirchhof ist vom Kreuzgang eingeschlossen, 
»Wo Epheuranken an den Pfeilern sprossen .. 
»An spitzgebogenen Fenstern ist zu schauen 
»Laubwerk und manche Blum’ in Stein gehauen ; 
»Vor allen Bildern sierlich, wahr und lebend 
» Ein steinern Vogelnest, am Aste schwebend. 
»Der Jungen Schnäblein heischend aufgerissen, 
»Die Mutter sie zu alzen, hold beflissen, 
»Sze wÄrmend mit den aufgespreisten Schwingen, 
»Die Kleinen werden fliegen bald und singen .. .<*) 
Das Obergeschoss des östlichen Kreuzflügels ist von der Arkadenhalle aus 
mittelst einer neueren, kunstlosen Holzstiege zugänglich und besteht in einem die 
ganze Länge des Bautheiles einnehmenden, jetzt jeglicher künstlerischer Zier baaren 
Saal, der bald als refectorium, bald als infirmatorium, bald als dormitorium erklärt 
wird. Die Beschaffenheit der ganzen Umgebung des Bautheiles ist jedoch der Art, 
dass es sich hier weder um einen Speisesaal, noch um einen Krankensaal, noch um 
einen Schlafsaal handeln kann. Unseres Erachtens ist in dieser Räumlichkeit ein 
Winteroratorium der Stiftsgeistlichkeit zu erkennen. Für diese Annahme spricht 
hauptsächlich der Umstand, dass die südliche Schmalseite des Saales, die von der 
Hofwand des Nordtranssepts der Kirche begrenzt wird, an dieser Stelle durch eine 
hohe Spitzbogenöffnung freien Ausblick in das Gotteshaus gewährt und ehedem den 
Zutritt auf eine Empore ermöglichte, deren schwere Steinkonsolen noch jetzt an der 
Transseptwand im Inneren der Kirche sichtbar sind. Im Saale selbst spendete ein in 
Ueberresten vorhandener Kamin die nö- & a 
thige Wärme. An den Fensterpfosten & .-. \- N EN : I 
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kommen folgende Steinmetzzeichen vor: Y 
Ob die Räumlichkeit, abgesehen von ihrer Bestimmung als Versammlungsort 
für die vorschriftsmässigen Gebetstunden dem Stiftsklerus nebenbei zur Recreation 
diente — in welchem Betracht die steinernen Ruhesitze an den Seitenwänden der 
Fensternischen mit dem Blick auf den Kreuzgarten zu ernstem wie traulichem Ge- 
dankenaustausch einluden — bleibe dahingestellt. Auch für die leibliche Bequemlich- 
keit war Sorge getragen innerhalb des in der Südwestecke des Saales gelegenen, 
durch ein schmales Spitzbogenpförtchen zugänglichen, halbrunden Anbaues, der von 
Fabulisten als Geisselkammer ausgegeben wird. **) 
Der Nordflügel des Kreuzganges besteht aus einer Folge von acht Arkaden 
mit Drei- und Vierpassbildungen in den Bogenschlüssen. (Fig. 171.) Die Blätter- 
*) Mittheilung von Hrn. Reallehrer Eck zu Wimpfen, 
**). Derartige Anlagen sind in mittelaltrigen Monasterien nicht ungewöhnlich. Auch am Mainzer 
Dom ist ein solcher Ort vorhanden und von dem zur Sakristei führenden Korridor aus zugänglich, 
    
  
    
  
  
  
  
  
  
  
  
  
   
    
  
   
   
       
   
  
   
    
    
      
     
   
   
    
  
     
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