WIMPFEN A. B. 57
Darstellung in der Sixtinischen Kapelle zu Rom, wie auf Cornelius’ Weltgericht in
der Ludwigskirche zu München. — Die Ausdrucksweise des göttlichen Richters mit
Betonung des Gedankens der vier letzten Dinge nahm im Mittelalter nach und nach
bestimmtere Form an. Es bildete sich eine typische Auffassung aus, die wir auf
sämmtlichen Darstellungen des jüngsten Gerichts als unwandelbaren Kern finden, um
den sich der Gedanke, je nach der Phantasie des Künstlers oder aus Gründen des
Raumes und der Zweckmässigkeit, in einer Minderheit oder Mehrheit von Figuren
und Figurengruppen ausgestaltete. Auch bei einfachen Kompositionen thront immer
der richtende Christus in himmlischer Glorie auf dem Regenbogen, dem Symbol des
Bundes Gottes und der Menschheit. Niemals fehlen Maria und Johannes Baptista, die
als vornehmste Fürbitter der sündigen Menschheit zu Füssen des Heilandes knieen.
Schwebende Himmelsboten verkünden mit Posaunen das furchtbare Ereigniss, dessen
Schauplatz das Thal Josaphat ist. Bei figurenreicheren Schilderungen stehen unten
die Todten auf; oben erscheinen Engel und Heilige als Träger der Leidenswerkzeuge;
im Mittelgrunde rechts ziehen die Begnadigten unter dem Schutze der Madonna und
des h. Apostelfürsten Petrus in die ewige Herrlichkeit ein; links vor dem gähnenden
Höllenrachen als Ort der Verdammniss treiben die Geister Lucifers ihr satanisches
Wesen.
Diese reichere Darstellungsweise zeichnet auch das Wimpfener jüngste Gericht
aus. Schon die Abmessungen des Werkes sind überraschend. Das Gemälde nimmt
die ganze Hochwand ein und steigt von der Predella des St. Quirinusaltars, dessen
kolossalen Hintergrund es bildet, bis zum Schluss des Scheidbogens in einer Höhe
von 8,25 m hinan. — Mit bewunderungswürdiger Bildungskraft hat der alte Meister
ein Werk geschaffen, das am Erlöschen des Mittelalters noch einmal der Phantasie-
thätigkeit jenes Zeitabschnittes in einer Weise Ausdruck gibt, die durch ihre gewaltige
Wirkung unwillkürlich an die Kraft der Apokalypse Dürer’s gemahnt. Die Anord-
nung zeigt erhabenen Stil. In dem thronenden Weltrichter, dessen Haupt voll Hoheit
und Würde, ist der historische Christustypus ungemein grossartig erfasst. Schwert
und Lilienstengel symbolisiren seine strafende und begnadigende Gewalt. Im Aus-
druck gewahren wir, dem gegebenen Moment gemäss, ergreifende Lebendigkeit.
Arme, Brust und die auf der Weltkugel ruhenden Füsse sind unbekleidet. Von den
Schultern wallt in edlem Flusse der Mantel herab und umschliesst in gleich vortreff-
lichem Wurfe die Lenden. In den Gesichtszügen der zur Rechten des Richters
knieenden h. Jungfrau ist der Ausdruck der Demuth und Theilnahme voll Empfindung
wiedergegeben und auch im Antlitz des Täufers spricht sich das mit Ehrfurcht ge-
paarte Mitleid für die zu richtenden Schaaren deutlich aus.
Diese drei Hauptgestalten, unter denen der Messias durch gesteigertes Körper-
maass sich auszeichnet, bilden mit den posaunentragenden Engeln eine Gruppe für
sich, die nach unten durch eine schwebende Engelglorie mit Blumengewinden ab-
schliesst. Darauf folgen, die Stirnen mit Siegeskränzen geschmückt, Himmelsboten
und Heilige mit Passionsinstrumenten; sie überragen die Begnadigten auf der Rechten
und stehen in ausdrucksvollem Gegensatz zu den Verdammten und den die Luft
durchschwirrenden höllischen Dämonen auf der Linken. In dieser Gegenüberstellung
kommt die reiche Erfindungskraft des Künstlers in der Wahrheit und Mannigfaltigkeit