186 KREIS WORMS
dem Leib und den Falten des Gewandes hervor zu kriechen scheinen. Ein Bal-
dachin ist über ihr, wie über der erstgenannten, das Postament zeigt die Relief-
skulptur eines Bockes, der Trauben frisst. Ihre Stellung auf dem Postament ist,
worauf schon Schneider aufmerksam machte, nicht mehr die ursprüngliche; sie
sieht jetzt nach der Treppe zum Portal hin. Früher sah sie nach vornen,
wie daraus hervorgeht, dass die kantige Sockelplatte der Figur dermalen nicht
mehr auf die entsprechenden Winkel des Konsols passt, sondern merklich ver-
schoben ist. Offenbar sollte das Getier auf dem Rücken besser sichtbar gemacht
werden. Über der erstgenannten Figur steht eine gekrönte Frau, eine Büchse in
der Linken, mit der Rechten zwei sehr viel kleiner dargestellten Bettelnden Kleider
herabreichend. Sie steht auf dem Baldachin der unteren Figur und ist mit einem
solchen Baldachin überdeckt. Ebenso ist die Anordnung bei der vierten Figur, die
über der Frau steht, deren Rücken voll Gewürm ist. Ihr fehlen
alle erkennbare
Beigaben, da die linke Hand abgeschlagen ist und der Rest einer Beigabe in deı
Rechten sich nicht mehr bestimmen lässt, doch bezeugt Wicelius, dass sie einen
Pfeil und ein Buch in Händen gehabt habe. Sie hat lang wallendes Haar und
eine Krone auf dem Haupt. Wicelius sah in dem zusammengehörigen Bildwerk
| alten Testaments
die werkthätige Liebe des neuen Bundes dem legalen Opfer des
und die biblische Wahrheit dem Truge der Häresie entgegengestellt; erstere erschienen
als die Sieger. Demnach erklärt er die Figuren so:
Hinten oben: Vornen oben:
Werkthätige Nächstenliebe. Wahrer Glauben.
Hinten unten: Vornen unten:
Synagoge. Häresie.
Falk erklärt die Figuren so:
Barmherzigkeit. Wahrheit.
Judentum. Heidentum.
In Barmherzigkeit und Judentum ist nach ihm die Kraftlosiekeit deı Opfeı
im alten Bunde in Gegensatz gestellt zu dem einzige wahren ( pfer am Kreuz; Gott
genügt nicht die Beobachtung äusserer Formen beim Maneel innerer. zu Gottes-
und Nächstenliebe bewegender Überzeugung. In den beiden anderen Gestalten ist
die Unwahrheit und Lüge des Heidentums in Kontrast vebracht zu de Wahrheit,
wie sie im göttlichen Wort enthalten ist. Beide Erklärungen können nicht voll-
ständig befriedigen. Zwar wird wohl die untere und hintere Figur mit Fug als
Judentum erklärt werden müssen, aber das üppige Weib vornen
ist gewiss weder
Heidentum noch Häresie, sondern die Weltlust. Schneider
hat im Korrespondenz-
blatt a. a. O. hieran gedacht und sich dabei auf das Gedicht Walters von deı
Vogelweide berufen, welches die Absage an die Weltlust enthält
doch was der schanden alse vil
dö ich din hinden wart gewar,
daz ich dich iemer schelten wil.
Entscheidend ist die mittelhochdeutsche Erzählung des Konrad von Würz-
burg, in der einem ehrgeizigen und das Leben in Minnelust geniessenden R
*) S. 101 bei Lachmann, 3. Ausg.