Bau-
gefchichte
146 Baubefchreibung: Das Innere des Domes, Kapellen der Südfeite
Das dünngliedrige Maßwerk (Tafel 12d) verwertet ausgiebig die Fifchblafe; flache
Rundbogen verbinden je zwei Spitbogen der Unterteilung.
Über den Bauftoff und feine Bearbeitung an diefer Kapelle vgl. oben S. 60. Auch
im Innern laffen fich die langen, geraden Linien der ziemlich derben Scharrierung,
das Fehlen eines Saumbefchlags gut beobachten.
Alles in allem ftellen diefe Kapellenreihen eine fehr intereffante Erweiterung des
romanifChen Langhaufes dar. Zugleich laffen fie uns die Erftarrung der Gotik in der
entf&heidenden Wende um 1300 deutlich erkennen. Während die älteren Kapellen
noch etwas von der blühenden, organifch gefühlten Kunft der hohen Zeit haben,
wenigftens noch eine Erinnerung an die einft körperlich empfundenen Spannungen
in ihren runden Gliederungen lebendig ift, herrfcht in der Südreihe fchon ausgefprochen
das abftrakte, metallifche Wefen, die‘harte und unkörperliche Profilierung. Die Aller-
heiligenkapelle zeigt eine Art akademifcher Wiedererneuerung der älteren Formen.
Aber ein Blick auf die überfpigen Bogen, im Fenfter auf die kalte, dünne Profilie-
rung zeigt, daß von einer Wiederbelebung des alten Gefühls keine Rede fein kann.
Woher diefe Gotik nach Mainz kam — ich kann es nicht fagen. Vetterlein!) macht
auf eine gewiffe Verwandtfchaft der Profile in den älteren Kapellen mit der Profilie-
rung in der Stiftskirche zu Wimpfen im Tal aufmerkfam und glaubt auf Zufammen-
hänge diefer Mainzer Gotik mit der „füddeutfchen“ hinweifen zu können. In der
Architektur der Südkapellen follen dann vor allem Kölnifche Einflüffe erkennbar
werden. Das ift alles doch noch zu unbeftimmt. Man muß fich vor Augen halten, daß
im letten Viertel des 13. Jahrhunderts in Mainz eine ganz außerordentlich rege Bau-
tätigkeit einfegte.?) Auch der Dom organifierte feine Bauunternehmung im großen
Stil.?) Da ift zunächft anzunehmen, daß allerlei Kräfte verfchiedener Schulung hier
zufammenftrömten. Woher fie aber kamen und was fie mitbrachten, darüber wiffen
wir noch nichts. Es fehlt noch ganz an eindringenden Sonderunterfuchungen. Die
Gefchichte der Gotik am Mittelrhein ift noch zu fehreiben.
Erft recht unkörperlich, dünnfädig und linear ift die Gotik der Muttergotteskapelle.
Man verlangt notwendig nach Farbe, nach Malerei. Denn erft im Zufammenhang mit
ihr könnte das feine bewegte Spiel der Gliederungen an Stügen und Gewölbe feinen
legten Sinn erhalten, fo vollkommen malerifch werden, wie es gedacht ift. Der heutige
Zuftand vergewaltigt diefe Architektur noch viel ftärker, als das in den älteren Ka-
pellen der Fall ift. Man darf fich endlich die Frage vorlegen, ob nicht auch die ge-
gebenen Maße der Höhe und Tiefe dem befonderen Charakter diefer Baukunft Ge-
walt antun. Es gefChah jedenfalls in wohlerwogener Abjficht, daß man wenigftens gleich
zwei Joche zu einer Kapelle zufammenzog.
ABRISS DER BAUGESCHICHTE
Wenn wir nunmehr die Ergebniffe der Baubefthreibung, wie wir fie oben im Ein-
zelnen begründet und jeweils in kürzeren oder längeren Ausführungen zufammen-
gefaßt haben, den überlieferten gefChichtlichen Nachrichten (S. 16 ff.) gegenüberftellen,
fo erhalten wir folgende Entftehungsgefchichte des heutigen Domes.
Nach 975 bis 1009: Bau des Erzbifthofs Willigis ; davon erhalten je die fünf unteren
Gefthoffe der beiden Ofttürme (S. 27 ff., 33) und ein Reft der Nordwand des Weft-
querhaufes (S. 34 ff.).
!) Das Auftreten der Gotik am Dom zu Mainz. 1902. S. 22 ff.
?) Die genaueren Nachweife wird der zweite Band der Kirchen der Stadt Mainz bringen.
°) Die Domfabrik „Officium Fabrice Majoris Ecclesie Maguntine führte im 14. Jahrhundert
ein eigenes Siegel, der Fabrikmeifter wieder fein befonderes.