160 Baubefchreibung, die Einbauten: Oftchorlettner
dreier Kreuzgewölbe, von denen das mittlere breiter als die beiden feitlichen war, ein-
gewölbt. Diefe Rekonftruktion geftattet, die fämtlichen erhaltenen Refte richtig unter-
zubringen. Sie läßt aber freilich unerklärt, warum man eigentlich den Lettner nicht an
jene Stügen unter den Wandvorlagen des Chors anfchloß: das bleibt doch in hohem
Grade auffallend. Der unglückliche Neubau der Krypta deckt für alle Zukunft die
Spuren der Lettneranlage an den Wänden zu.
Der Lettner ift das Werk eines entfthiedenen Gotikers. Die Schüffelbafen mit dem
tief unterfchnittenen kleinen oberen Ring, die Kapitelle und Kämpfer mit dem groß-
formigen, leicht gebuckelten, f&hön bewegten, „naturaliftifchen“ Laub, die Profile der
Deckplatten fprechen das deutlich aus. Mehrere Kapitellbruchftücke vom Ciborium
folgen der Art des Kapitells unter dem Atlas: einzelne große (fich akanthusartig tei-
lende) Blätter decken den Kelch (Tafel 35 d). Zu diefer Gattung ftellt fich auch das Laub
an beiden Kämpfern, wenn auch in verfchiedenartigen Abwandlungen. Das Bruchftück
einer Konfole vom Ciborium dagegen läßt fich mit dem wundervollen großen Kapitell
über der langen Säule zufammenbringen. Hier fteigen am Kelch in leichter Bewegung
mehrere Äftchen auf, an denen einzelne Gruppen von Ahorn- oder Weinblättern und
Beerenbüfchel fitgen (Tafel 35c). Endlich ift auch noch ein Hörnerkapitell vorhanden.
Alle Bruchftücke vom Ciborium (Rippen und Kapitelle) und das große Kapitell
über der langen Säule find aus grauem Sandftein und von [ehr feiner Arbeit. Sie zeigen
noch viele Spuren alter Bemalung (Rot, Gold, Grün, Blau). Dagegen find alle Stücke
der beiden noch an Ort und Stelle gefundenen Stüten, Säulen, Atlas, Kämpfer, mit
alleiniger Ausnahme des fhon genannten Kapitells aus hellrotem (Main-) Sandftein
und etwas derber gearbeitet. Die erwähnten Unterfchiede im Stil, in Stoff und Arbeit
geben indeffen nicht hinlänglich Anlaß, an verfchiedene Meifter zu denken. Nur die
Ausführung braucht nicht durchweg von derfelben Hand zu fein.
Der Atlas ift eine derbe, gedrungene Geftalt in bürgerlichem Gewand. Man beachte
die Stiefel, die umwickelten Handgelenke. Das leider ftark zerftoßene Geficht drückt
deutlich die Anftrengung aus: die über der Nafenwurzel zufammengezogenen Stirn-
muskeln, die tiefliegenden Augen, der halb geöffnete Mund, den ftarke Falten be-
gleiten — das alles gibt dem Geficht geradezu etwas Leidendes. Die Arbeit ift gut.
Schon Schneider hat die Verwandtfchaft diefes Atlas mit den Trägern unter dem
Hauptgefims des Chores zu Reims bemerkt. Danach hebt Vetterlein die Beziehungen
der Kunft unferes Lettnermeifters zur Reimfer Kathedrale gebührend hervor. Auch
die Laubkapitelle haben dort ihre Ahnen.
Unter den Bruchftücken, die im Obergefchoß des Kreuzgangs (im Oftflügel) zufammen-
getragen find, finden fich nun aber noch ein paar Köpfe, die man gerne mit dem Oftlettner
desDomes inVerbindung bringen möchte. Daiftzunächft derköftliche Kopfmitder Binde,
den wir auf Tafel 35 e abbilden, zirka 25cm hoch, aus grauem Sandftein. Auch er hat den
Ausdruck fehmerzenderAnftrengung. Ja,dieZeichnung dertiefgebetteten,nachinnen oben
ausgebohrten Augen, der breiten Wangen mit abgeplatteten Kiefern, des vollen Mundes,
des Haares verweifen ihn in die Nähe „des Atlas“. Hier ift die Arbeit von größter Schön-
heit. Reichliche Spuren von Farbe (Dunkelrot: Binde; Fleifchton: Wangen; Dunkelrot:
Lippen; Gelb: Haar) beweifen, daß auch der figürliche Schmuck desLettners farbig war.
Sodann fcheint zu dem Lettner auch noch das Bruchftück einer Laubmaske zu ge-
hören (Tafel 35 g), deren eigentümliches Blattwerk an dem Kämpfer über dem großen
Kapitell wiederkehrt.!) Das Stück befindet fich ebenfalls, ohne daß über feine Herkunft
1) Diefes Blattwerk (dreiteilig, rundgelappt, in der Mitte mit einer tiefen Falte) kommt
aus Reims, vgl. Jahrb. der Kgl. Preuß. Kunftfammlungen 30. 1909. S::260.
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