Conrady: Malerei — Wandgemälde 81
alter Tempel in Ts’u, die der verbannt umherirrende Dichter auf einer seiner
Wanderungen angetroffen und zur Ablenkung seines Kummers in solcher Weise
geschildert hat.!) Ist diese Überlieferung um so vertrauenswürdiger, als sie
einem noch heute unvergessenen und betrauerten Liebling seiner Heimat und
ganz Chinas gilt und obendrein von dessen wenn auch späterem Landsmann,
dem gelehrten Kunstfreunde Wang Yih (um 120 v. Chr.), vermittelt ist, so
wird sie meines Erachtens durch Form und Inhalt des Werkes so vollauf be-
stätigt, daß sie überhaupt als die einzig mögliche Deutung erscheint.
Denn was zunächst die Form betrifft, so ist sie ein Unikum bei K’üh
Yüan: statt der dithyrambischen Rhythmen seiner übrigen Gesänge finden wir
hier das ruhige, viersilbige Metrum der älteren Poesie zugrunde liegen, und es
fehlt auch gänzlich die Interjektion hi, die sonst so unentbehrlich und
charakteristisch für seinen Versbau ist. Nimmt man hinzu, daß oft genug
eine deutliche Naht zwischen Frage und Schilderung hinläuft, die jene als an-
oder eingeflickt vermuten läßt, ja daß unter der überschichtenden Frageform
hin und wieder sogar alte Endreime verborgen sind, so kann man sich der
Ansicht nicht erwehren, daß der Dichter hier nach Bilderbeischriften ge-
arbeitet habe, wie sie z. B. auch die Skulpturen von Schantung (und häufig
in demselben Versmaß) zeigen, und ich getraue mich in der Tat, bei einer
ganzen Reihe von Strophen den einfach erklärenden, älteren Text wiederher-
zustellen.
Noch deutlicher spricht jedoch der Inhalt. Zwar besegnet ein Teil des
hier behandelten Stoffes auch in K’ühs anderen Gedichten, und man könnte
darum vielleicht meinen, er wolle diesen ebenfalls nur, wie dort, in sym-
bolischer Beziehung auf sein eigenes Verhalten und Schicksal verstanden wissen
— wie er denn sicherlich ein Meister dunkelster Symbolisierung und tiefsten
Hineingeheimnissens, ein wahrer ‚„Allegoriowitsch“ und „Mystifizinski“ ist, um
mit Vischer zu reden. Allein selbst dem so ausnehmend darin geübten Spür;
sinn der Chinesen ist es meines Wissens nicht gelungen, dergleichen hier zu
finden, und wirklich muß auch eine solche und überhaupt jede andere als \
die überlieferte Deutung meines Erachtens nicht nur an dem Charakter der
Stoffe selbst, von welchen er denn auch eine beträchtliche Anzahl nirgendwo
sonst zu seinen Anspielungen verwendet hat, sondern vor allem an der Art
der Behandlung scheitern. Denn die ist grundverschieden dort und hier.
Dort, wo zudem das Ich auch sprachlich überall im Vordergrund steht, wird
der Gesamtinhalt eines historischen Vorgangs, eines langen Heroenlebens nur
in ein kurzes Fazit zusammengezogen, das den moralischen Kern heraus-
schält: es ist durchaus abstrakte, rein reflektierende und in der Regel sehr
unplastische Darstellung; hier im T’ien-wen dagegen, das auch dem Dichter
selbst nur ganz am Schlusse zu ein paar persönlichen Versen das Wort gibt,
pflegen dieselben Themen und überhaupt alle behandelten Vorgänge in eine
Reihe von einzelnen Episoden, von Einzelbildern zerlegt zu sein, unter denen
sich oft _genug kleine, für Kern und Moral der Sache ganz bedeutungslose
Nebenzüge finden: es ist eine plastisch-konkrete Beschreibung, der höchstens
!) Als K’üh Yüan verbannt und sein Leid dem Himmel klagend die Einöden
seiner Heimat durchstreifte, heißt es in Wang Yihs Vorrede, „sah er die Tempel früherer
Könige von Ts’u und die Opferhallen ihrer Großbeamten, worin die Wunder von Himmel
und Erde, von Göttern und Geisterwesen in Bergen und Strömen, sowie der alten Weisen
und Heiligen Taten und Seltsamkeiten gemalt waren. Vom Wandern ermüdet, ruhte er
an ihrem Fuße aus und sah dann, emporblickend, die Gemälde; darum schrieb er die
Antworten (?) ihrer Wände auf und fragte (seine Landsleute) danach, um seinen Zorn
und Kummer abzulenken.“
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Münsterberg, Chinesische Kunstgeschichte