Hanzeit — Griechisch-römischer Stil
in den Fragen eine Reflexion (und dann ganz anderer Bedeutung als sonst)
locker angefügt ist. $o tut z. B. das Li-sao die Sage von Kun mit der einen
Strophe ab: „Kun war sehr gerade, dadurch verdarb er sich selbst und fand
einen frühen Tod in der Einöde von Yü“,!) während ihn das T’ien-wen zu-
nächst durch Akklamation in sein Amt gewiesen, dann es ausübend und end-
lich in der Verbannung zeigt, und zwar hier u. a. wieder, wie Schildkröten
und Eulen an seinem Leibe zerren und nagen, und wie er sich schließlich in
einen gelben Bären verwandelt.2) Oder wenn es in jenem Gedichte von Kiao
nur heißt: „Kiao war von gewaltiger Stärke, er frönte seinen Begierden und
zähmte sich nicht; täglich ergab er sich dem Vergnügen und vergaß sich
darin, und sein Haupt ward niedergeworfen,“3) so führt uns das andere seine
Geschichte und ihr kritisches Ereignis, die Liebesintrige mit seiner Schwägerin
Nü-k’i, bis in die kleinsten Einzelheiten vor: ,„Kiao, an der Tür stehend, was
suchte er bei der Schwägerin? Warum hetzte Shao-k’ang die Hunde (auf ihn)
und warf ihm das Haupt nieder? Nü-k’i nähte das Gewand (Kiaos) und
dort im Haus zusammen blieben sie; warum irrte sich (der von Shao-k’ang
gesandte Mörder) köpfend in ihren Häuptern und erlitt sie so um ihre Neigung
den Tod?“*) In derselben analytischen Weise sind die übrigen historischen
Partien — die Geschichte des Yü, K’i, J-yın, Wen-wang u. 8. w., U. 8. w. —
behandelt, ja es kommt sogar vor, daß ein einziges Ereignis so kaleidoskopisch
aufgerollt ist, z. B. die Entscheidungsschlacht Wu-wangs gegen Chou von Yın,
wo in vier selbständigen Szenen gezeigt wird, wie Wu den Tag des Kampfes
verabredet, wie sich sein Heer versammelt und zum Kampfe drängt, wie er
die Leiche seines Vaters in die Schlacht mitführt und wie er schließlich seines
Gegners Haupt abschlägt.°) Immer also sind es plastisch darstellbare Szenen,
wirkliche ‚‚Bilder aus der Vergangenheit“, und man glaubt in der Tat nicht
selten das leibhaftige Bild vor Augen zu haben.
Von gleichem, wenn nicht größerem Gewicht für dies Urteil scheinen mir
ferner die Wiederholungen zu sein, denen wir im T’ien-wen mehrfach be-
gegnen. So findet sich, um nur ihrer zwei herauszuheben, die Sage vom
tugendhaften Shun und seinem bösen Bruder und die Lebensgeschichte J-yins
je zweimal, und zwar beide Male fast nebeneinander und die letztere gar ın
zwei zum Teil verschiedenen Versionen.®) Dergleichen hat bei einem frei kon-
zipierten Werk und noch dazu einem Tendenzgedichte keinen Sinn, ist aber
meines Erachtens um so verständlicher oder vielmehr allein erklärlich bei
einer Beschreibung von Bildern eines oder mehrerer Tempel; denn selbst ohne
die lehrhafte Absicht in Betracht zu ziehen, deren sich eingestandenermaßen n
auch die altchinesische Kunst nicht entschlagen wollte, wird man da an-
nehmen dürfen, daß ein Lieblingsmotiv aus der Geschichte nicht bloß in einem
von ihnen dargestellt worden sei. Und in der Tat bemerken wir ganz das-
selbe bei einer wirklich vorhandenen, alten Bilderwerkserie von ähnlicher Ver-
wendung: die berühmten Skulpturen der Familie Wu sind der Doublette so
1) T’su-tz’e 1, 6b, cf. u.a. Pfizmaier, Das Li-sao und die 9 Gesänge (Sitzungsber.
der Wiener Akademie, phil.-hist. Kl. 1851, S. 165); ähnlich in den Kiu-chang: T’su-tz’e
4, 32.
2) T’su-tz’e 3, 3b, 4b, 7a.
3) Ebenda 1, 7b: Pfizmaier, S. 166.
4) "T’gu-tz’e 3, 7b. Vol. die (danach gemachte?) ausführliche Erzählung des Chuh-
shu-ki-nien 2, 7a: Chin. Class. III, 1, Proleg. 120/21.
5) Ts’u-tz’e 3, I9b/10a, 11b.
6) Ebenda 3, Sa/8b, 9a/9b.
7) Jih-chi-luh 21, 37b.