Full text: Vorbuddhistische Zeit. Die hohe Kunst: Malerei und Bildhauerei (Band 1)

      
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
   
  
   
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
   
   
  
  
  
   
BEA EN, 
Drache, Tiger, Phönix, Löwe 
In der Hanzeit erhielten auch jene Phantasiegebilde eine künstlerische 
Form, die ein bedeutungsvolles Symbol der chinesischen Kunst geworden sind: 
Drache und Tiger, Phönix und Löwe. 
Aus der Sage waren fremdländische Tiere bekannt geblieben, die im Laufe 
der Jahrhunderte mit übernatürlichen Kräften ausgestattet und schließlich zum 
Träger gewisser Ideale erhoben wurden. In der ‚„modernen“ Zeit der Han, 
als selbst Menschen in realistischer Wahrheit und Fabeltiere mit orientalischer 
Phantasie in Stein und Bronze dargestellt wurden, erhielten auch die Phantasie- 
gebilde eine feste Form, die sich aus Stilisierungen alter unverstandener Vorbilder 
entwickelte und dann maßgebend für alle Zukunft blieb. 
Ein Schriftsteller, Shu Hsiang, im 6. Jahrhundert v. Chr. erzählt, daß aus den 
Höhlen der Berge und den weiten Sümpfen die wirklichen Drachen und Schlangen 
entsteigen.!) In anderen Büchern heißt es: „Wo die Berge am höchsten und die 
Regenwolken aufsteigen, und wo die Wasser am tiefsten, dort werden die verschie- 
denen Arten der Drachen geboren.“ Eine mehr natürliche Schilderung geben alte 
Annalen: Als Yü den Yangtsefluß kreuzte, hob ein gelber Drache das Boot auf seinen 
Rücken, und als Ching Tsefei über den Huaifluß ging, schwammen zwei Drachen um 
sein Schiff. Ein Reitersmann wollte sein Pferd retten, das im Sumpfe versank, und 
fand zwei Drachen, die er tötete. Aus diesen Schilderungen können wir unschwer 
entnehmen, daß es sich zuerst um Begegnungen mit Schlangen und dann mit 
Alligatoren handelte, die tatsächlich vor der Kolonisierung am Yangtsefluß vor- 
gekommen sein sollen. Die Idee des Drachen, vielleicht eine letzte Tradition fremder 
Sagen, lebte im Volk, und als die Söhne des Ackers diesen unbekannten Tieren be- 
gegneten, da hielt man sie für wirkliche Drachen. 
Erst in der späteren Zeit, als die spekulativen Köpfe der chinesischen Gelehrten 
zu Aberglauben und Zauberei neigten, wurden die Drachen auch die Bewohner des 
Himmels, auf denen Geister ritten, während mehr nüchterne Philosophen, wie Wang 
Chung (27—97 n. Chr.), schon ihre Bedenken über die Richtigkeit dieser Angaben 
äußern. „Warum‘ — sagt er — „sollen die Geister auf Drachen gen Himmel reiten, 
da sie doch selbst so leichte Körper wie Genien haben und fliegen können wie wilde 
Gänse?“ Andere Legenden sagen, daß zur Zeit des Frühlingsäquinoktiums der 
Drache zum Himmel steige. und zum Herbstäquinoktium wieder in den. Fluß 
zurückkehre. Dieses Motiv der auf- und absteigenden Drachen finden wir häufig 
in der Malerei und in der Architektur, besonders an Säulen, um die sich die 
Drachen winden. 
Bei den im alten Stile ausgeführten Jadearbeiten, Porzellanen und Bronze- 
gefäßen werden bis heute vorwiegend die mißverstandenen Reptilien-Stilisierungen 
von den alten Bronzen verwendet (Abb. 7), während die Alligatorgestalt selten vor- 
!) Forke, Lun-Höng, Part. I, Philosophical essays of Wang Ch’ung. London 1907, 
Kap. XXIX. =
	        
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