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Malerei — Europäische Kritik — Ästhetische Wertung 111
Es ist ohne weiteres anzunehmen, daß ein Volk, dessen poetische Kunst von
der Welt anerkannt und bewundert wird, auch die Schwesterkunst, die Malerei, zu
einer gleich hohen Stufe entwickelt hat. Trotzdem ist in Europa über asiatische
Malerei ein ungünstiges Urteil verbreitet.
Ist diese abfällige Kritik ein Vorurteil oder erscheint sie durch die Qualität
der Werke gerechtfertigt?
Jedes Volk hat seine unterschiedliche, eigenartige Kulturentwicklung. Rasse
und Geschichte, Religion und Sitte, Klima und Landschaft bedingen jene Eigen-
arten, die auf dem Gebiete der Kunst einen auf den ersten Blick erkennbaren Unter-
schied hervorrufen. Ein chinesisches Bild werden wir niemals mit einem europäischen
verwechseln.
Es entsteht aber die Frage: können wir beide Bilder gleich objektiv ästhetisch
würdigen, sind überhaupt beide Bilder — gleichwertige Beispiele vorausgesetzt —
oleich wertvoll? Ist der Unterschied ein innerer künstlerischer oder ein äußerer,
sachlich bedinster?
Die Antwort wird uns leicht erscheinen. Die europäische Kunst mit ihren
Schatten- und Lichtreflexen, mit ihrer Tiefenwirkung durch Farbenakkorde und
Zwischentöne und mit ihrer Naturwahrheit ist der asiatischen Stilisierung weit über-
legen.
Wenn aber Chinesen und Japanern die gleiche Frage vorgelegt wird, so wird
ebenso schnell und sicher die entgegengesetzte Antwort erteilt werden. Die Ver-
nachlässigung des Linienrhythmus, der Farbenharmonien und einer gefälligen Kom-
position, das Nichtbeachten der Bewegungslinien bei den einzelnen Objekten der
Natur, sowie die Stilisierung in Farben und besonders das Streben, wissenschaftlich
richtig statt subjektiv künstlerisch zu wirken, erscheinen den Asiaten unnatürlich
und schlecht beobachtet. Unbewußt wird das Urteil beider Parteien außerdem noch
beeinflußt durch die Unkenntnis der anderen Welt in bezug auf das Dargestellte
und die durch Gewohnheit anerzogenen, äußeren Eigentümlichkeiten, wie Technik,
Format, Umrahmung, Zweck u.a.
Um die ästhetischen Werte in der fremden Kunstsprache zu würdigen, müssen
wir uns frei machen von dem Einfluß aller äußeren, fremdländischen Zufälligkeiten
und unserer Vorurteile; nur der innere Kunstwert soll erkannt werden.
Die vielseitige, ewig wechselnde Natur in der zweidimensionalen Fläche nieder-
zuschreiben, ist nur durch eine Umformung des Gesehenen in unserem Gehirne, durch
eine Stilisierung möglich. Je nachdem der Umriß oder das Spiel der Lichter, das
Gegenständliche im einzelnen oder die Gesamtwirkung, die Linie oder die Farbe
stärker betont wird, ist die Auffassung völlig verschieden. Diese rein künst-
lerischen Verschiedenheiten in der Ausführung müssen wir sorgfältig trennen von den
zufälligen Ausdrucksmitteln, die das einzelne Volk durch Überlieferung und äußere
Einflüsse besitzt.
Die durch das Kulturmilieu bedingte Eigenart gegenüber der europäischen
Kunst muß also bei der Betrachtung der asiatischen Kunstwerke hingenommen
werden wie jede Besonderheit einer fremden Sprache. Es sind Grundelemente, die wie
der Stein oder der Ziegel an sich weder schön noch häßlich sind, sondern nur das
Material bilden, mit dem der sichtbare Bau in künstlerischer Form ausgeführt werden
soll. Man darf nicht am mongolischen, wenig ausdrucksfähigen Typus der Gesichter
oder an den in unserem Klima unbekannten Landschaftsformationen oder an der
Technik der Wasserfarben oder an der historisch entstandenen Perspektive eine ober-
flächliche Kritik erschöpfen, sondern muß tiefer eindringen und herausfühlen, wie mit
diesen gegebenen Mitteln die künstlerischen Aufgaben gelöst sind.
Die für die ästhetische Wertung eigentlich völlig nebensächlichen Momente be-
wirken gerade, daß wir Europäer zunächst verständnislos vor der ausländischen