Full text: Vorbuddhistische Zeit. Die hohe Kunst: Malerei und Bildhauerei (Band 1)

      
   
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
   
  
  
  
  
  
  
   
  
  
  
  
       
114 Die hohe Kunst — Allgemeines 
In Ermangelung von öffentlichen Sammlungen oder von Abbildungsmaterial 
zum Vergleich spielte die Ansicht der „Kunstexperten“ eine große Rolle. 
Einzelne dieser Gilde haben eine solche Berühmtheit erlangt, daß ihr Urteil als 
unbedingt zuverlässig angesehen wird, wenn es wie ein Sachverständigen-Gut- 
achten einem Bilde unter Angabe des Namens des Malers beigefügt ist. 
Aber welches Material stand diesen ohne öffentliche Kontrolle im Interesse 
von Sammlern arbeitenden Geschäftsexperten zur Seite? Meist eine ererbte Masse 
von Kopien, welche die Vorgänger im Geschäft angefertigt und gesammelt hatten, 
und ihre Erfahrung. Das Urteil konnte daher nicht auf Grund von Vergleichen 
mit anderen Originalen abgegeben werden, sondern an Hand der Skizzen, die 
gewisse Eigentümlichkeiten in der Ausführung, oft nichtige Kleinigkeiten, betonten. 
Die Erfahrung, die Europa mit der Bestimmung seiner Kunstschätze gemacht hat, 
solange sie nur im Privatbesitz verborgen waren, sollte eine Lehre sein, mit aller- 
größter Vorsicht diesen Echtheitsbeweisen zu begegnen. 
Um zu zeigen, wie jahrhundertelang alle Gelehrte, die ganze öffentliche 
Meinung vom Kaiser bis zum Volke, getäuscht werden konnte, will ich ein Beispiel 
anführen. Alte Traditionen versichern, daß der fabelhafte Kaiser Yü (2293 v. Chr.) 
eine Steintafel 1) mit Inschrift auf hohem Felsen bei Hankan errichtet habe. Durch 
die ganze Literatur — der chinesische Gelehrte schreibt im wesentlichen immer ab, 
ohne zu prüfen — gehen Berichte über diese älteste Inschrift Chinas. Wiederholt 
sind Reisende unterwegs gewesen, die Tafel zu sehen. Nicht weniger als neun Kopien 
dieses heiligen Steines sind in verschiedenen Orten aufgestellt. Als Haenisch mit 
europäischer Wissenschaftlichkeit die jetzt vorhandene Tafel an Ort und Stelle 
untersuchte, stellte sich heraus, daß der jetzige Stein vom Kaiser Wanli (1573— 1620) 
errichtet und ofienbar die Kopie eines Yüsteines war, dessen Trümmer von Reisen- 
den noch im Anfang des 17. Jahrhunderts gesehen worden waren. Aus alten Berichten 
ist das Vorhandensein des Originals bis zum 13. Jahrhundert, nicht für früher, be- 
wiesen. Aber dieZeichen auf dem Stein sind überhaupt keine Inschrift, sondern unent- 
zifferbare Zauberzeichen, ‚wie sie heute noch in China im Gebrauch sind“. Daß 
bearbeitete Steine fünf- oder selbst nur dreitausend Jahre erhalten sein sollen, ist 
schon durch das Material ausgeschlossen. Somit ist aus diesem ältesten Dokument 
Chinas, das seit über tausend Jahren die Gelehrten, Kaiser und viele Pilger be- 
schäftigte, ein Zauberstein aus nachchristlicher Zeit geworden, der weder einen 
historischen noch einen künstlerischen Wert hat. Zugleich sehen wir die Kopien, 
die sorgfältigst hergestellt sind, als besondere Schätze verehrt. 
Wirklich authentische Anhaltspunkte für die Zeit ihrer Entstehung geben die 
Inschriften der Steinfelsen und die reichen Tempelschätze, soweit ihre Datierung, 
besonders in Japan, genau feststeht. Ferner diejenigen Bilder, deren Echtheit histo- 
risch bewiesen ist, z. B. durch Dokumente über ihren Erwerb bzw. ihr erstes Vor- 
kommen. Die übrigen Bilder können nur für den Stil maßgebend sein. 
Das vorhandene Material ist zwar teilweise vollständiger als das uns aus 
Griechenland überlieferte, wo Malereien überhaupt fehlen, aber dennoch nicht aus- 
reichend, um eine Geschichte der Künstler und ihrer bedeutendsten Schöpfungen 
zu geben, und es ist fraglich, ob eine solche jemals geschrieben werden kann. Wohl 
aber können wir die Geschichte der Kunst, ihre Stilentwicklung und Technik 
begreifen lernen. 
!) Haenisch, Die Tafel des Yü. Oriental. Seminar, Bd. VIII, 1905,
	        
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