154 Verschiedene Dynastien —- 3. bis 7. Jahrhundert
Diese Erkenntnis ist für den Unterschied zwischen europäischer und asiatischer
Kunst von größter Bedeutung. Unsere Künstler sehen — wenigstens in den letzten
Jahrhunderten — die Szenerie stets von vorn, und daher erscheint der nahe-
liegende Vordergrund groß und die weite Ferne verlaufend verkleinert. Diese Auf-
fassung kann aber in dem Auge des chinesischen Künstlers gar nicht entstehen, denn
er sieht nicht von vorn wie wir, sondern aus der Vogelperspektive, und da müssen
schon meilenweite Entfernungen vorliegen, um eine entsprechende Verkleinerung
beobachten zu können. Wo derartige weite Fernblicke, z. B. in Landschaften, gemalt
werden, verkleinert auch der Chinese folgerichtig, aber bei Menschenszenen, die
nur Entfernungen von einigen Metern bedingen, kann für ihn eine perspektivische
Verschiebung der Größenverhältnisse nicht in Frage kommen.
Dazu kommt noch ein weiterer grundlegender Unterschied zwischen West
und Ost. Der europäische Künstler strebt in seinen Bildern nach einer wissenschaft-
lichen, gleichsam objektiven Wahrheit des Gegenstandes; er konstruiert die Per-
spektive nach Gesetzen der Geometrie. Aber schon die Tatsache, daß erst die exakte
Wissenschaft Europas und nicht das Auge des Künstlers diese Perspektivgesetze
gefunden hat, und noch mehr, daß diese moderne Auffassung erst die in älteren Zeiten
vom Künstler naiv nach dem Gesehenen niedergeschriebene — der asiatischen viel
näher stehende — Darstellung korrigierte, läßt erkennen, daß Tradition und Gewohn-
heit suggestiv das Auge beeinflußten und die subjektive Wahrheit mit der objektiven
in der Kunst nicht übereinstimmt. Dann aber wäre es durchaus möglich, daß mehrere
Auffassungen nebeneinander bestehen können, die alle ihre Berechtigung und ihre
subjektive Richtigkeit haben, und so ist es auch tatsächlich. Der Asiate sieht ganz
anders als der heutige Europäer. Und wer sich längere Zeit in den Geist der asiatischen
Kunst eingelebt hat, der lernt langsam diese Auffassung begreifen und ihre künst-
lerische Durchführung schätzen.
„Die Renaissance!) brachte erst die wissenschaftliche Begründung für die
Richtigkeit des Dargestellten. Nicht mehr war, das primitiv Gesehene wiederzu-
geben, das Ideal des Künstlers, sondern das Konstruierte und Durchdachte. Die
Gesetze der Geometrie führten zu jener Perspektivkonstruktion, die unsere großen
Meister der Gotik nicht kannten, und die von mehr als einem der größten Talente
späterer Zeit mit genialer Souveränität beiseite gelassen sind, um das wiederzugeben,
was wirklich auf der Netzhaut des Auges erschien. Dieser wissenschaftliche Geist
ist niemals nach Asien gedrungen, sondern die alte Kunst der Griechen und unseres
Mittelalters ist weiterentwickelt und nach vielen Richtungen — wie wir später sehen
werden — bereichert und vertieft. Wenn wir dieser ursprünglichen und natürlichen
Kunst der Perspektive und der Raumwirkung heute fremd gegenüberstehen, so ist
der Grund nur darin zu suchen, daß wir eine Konvention der geometrischen Kon-
struktion uns zu eigen gemacht haben, von deren einseitigen Gewohnheiten wir uns
nur schwer befreien können.“
Der Asiate will das malen, was und wie er es sieht. Er will eme Impression
geben, ein Abbild dessen, was sich in seinem Auge ohne Beeinflussung von Ver-
standesreflexionen rein naiv widerspiegelt. Allerdings ist auch er nicht frei von
einer Fülle technischer Traditionen, und viele Einzelheiten geben ihm nur deshalb
die Erinnerung an Verhältnisse in der Natur, weil er die Gewohnheit angenommen
hat, sie als solche anzusehen. Die stilisierten Wolken und Engel, Blumen und Berge
sind ihm Symbole, an deren impressionistische Umgestaltung erst die Meister spä-
terer Jahrhunderte herantreten. Vorläufig wird nur ein kleiner Schritt auf dem
Wege des Impressionismus gemacht, das bisher gleichmäßig über die Fläche ver-
teilte Interesse wird nach dem Vorbilde in der Natur auf einzelne Punkte konzentriert.
1) Nach Binyon, Painting in the Far East.