174 Tangzeit (618—960)
Figur entspricht dem linearen Freskostil, während der Baum und die Zweige
in ihrer dekorativen Anordnung das naturalistische Streben der Tangzeit verraten,
und ebenso sind die Steingebilde modernisierte Erinnerungen an die alten Felsen-
ornamente. Und dieses Streben nach Naturwahrheit vollendet in der Tangzeit die
Kunst Chinas zu einer klassischen Höhe.
Leider sind nur ganz vereinzelte Werke, die den Meistern dieser Zeit zuge-
schrieben werden, erhalten, und da diese sich in Japan befinden, so ist ihre Echtheit
durchaus nicht in jedem Falle bewiesen. In Japan war bis zum Anfang des 8. Jahr-
hunderts der Luxus auf den Kaiserhof und die Tempel begrenzt, während das
Volk noch auf einer niedrigen Kulturstufe stand, so daß alle Kunstwerke ein-
geführt oder von eingewanderten Arbeitern bzw. unter deren Einfluß hergestellt
werden mußten. Die Kunstgeschichte Japans ist um diese Zeit so gut wie iden-
tisch mit der von China. Dann begann in Japan ein geistiges und religiöses Ringen,
das den Sinn für die darstellende Kunst offenbar zurückgedrängt hat, bis aus
diesem inneren Leben, auf den Schultern der älteren chinesischen Kunst eine
nationale japanische Kunst entstand. Der Verkehr mit China war gelockert, bis im
14. Jahrhundert eine neue Kulturwelle vom Festlande auf die Inseln flutete
und viele Bilder der Sungdynastie in die Schatzhäuser der japanischen Fürsten
wanderten.
Zwar müssen wir auch diesen mit großer Vorsicht in bezug auf die Echtheit
und Richtigkeit ihrer Signaturen begegnen, aber jedenfalls sind es Kopien oder Stil-
bilder, die uns den Stil Chinas deutlich vergegenwärtigen. Aus der Zeit vom T. bis
10. Jahrhundert — also der Tangzeit — sind daher in Japan nur ganz vereinzelte
Bilder erhalten. Teilweise werden sie von modernen japanischen Kunstforschern
wohl mit Recht bezüglich der Echtheit der Autorschaft der zugeschriebenen chine-
sischen Meister angezweifelt. Aber sicher ist, daß sie damals nach Japan kamen
und daher für den Stil tatsächlich maßgebend sein können.
In Japan!) waren in der Nara-Epoche (593—793) innere Streitigkeiten zwischen
den buddhistischen Sekten entstanden, und um Frieden zu stiften, sandte der Staat
eine Mission nach China, die an der Quelle die wahre Lehre studieren und in neuen
Formen einen harmonischen Ausgleich schaffen sollte. Unter ihnen waren es beson-
ders Dengyo, der spätere Gründer der Tendaisekte, und Kobo Daishi, der Gründer
der Shingonsekte, deren erfolgreiches Wirken noch heute in ihrer Heimat gefeiert
wird. 805 trafen sie in der Hauptstadt Singan ein, und sie müssen dort einen
glänzenden Hof der Tangkaiser vorgefunden haben. Völker der ganzen Welt
waren vertreten. Wissenschaft und Kunst blühten, eine Zeit, der italienischen
Renaissance ähnlich. Aber wie die Jesuiten in China im 17. und 18. Jahrhundert,
waren die Japaner offenbar nur für ihre religiöse Aufgabe begeistert und haben,
ganz wie die europäischen Missionare, der Kunst wenig Interesse oder Ver-
ständnis entgegengebracht. Auch dürften ihnen die Mittel zum Erwerb von
Kunstwerken gefehlt haben.
Im Tojitempel zu Kyoto sind sieben große Bilder erhalten, von denen
fünf (Abb. 135) von Kobo Daishi aus China mitgebracht und zwei (Abb. 136) an-
geblich von ihm selbst gemalt sind. Es sind Porträts von berühmten Priestern,
und ihre Ausführung ist sicher in der Auffassung interessant, aber nach meinem
Dafürhalten sind es schlechte Kopien, wenn wir den chinesischen Berichten
über die damalige Kunst trauen dürfen und sie mit anderen Bildern der
Zeit vergleichen. Immerhin ist nichts Besseres erhalten, und so müssen wir
dankbar sein, aus ihnen wenigstens die typische Art der Porträtierung kennen
zu lernen.
1) A. Lloyd, The wheat among the Tares. London 1908,