190 Tangzeit (618—960 )
Wang Wei ist der vorbildliche Meister für die letztere, und seine Bildrolle zeigt
die weichere Ausführung. Trotz der großartigen Wildnis seiner Gebirge und der
hoch ansteigenden Felsen ist mit geschickter Hand jede einzelne Form gerundet
und harmonisch geglättet.
Seine Stimmungsmalerei hat Wang auch in Kunstbetrachtungen näher
beschrieben. Er weist auf die Unterschiede hin, die ein und dieselbe Landschaft am
Morgen und Abend, im Frühling, Sommer, Herbst und Winter hat. Ihn interessiert
nicht nur der Inhalt der Landschaft, sondern auch — wie Whistler, Monet und
unsere anderen ‚„Modernen‘“, nur 1000 Jahre später — die Stimmung in der Land-
schaft. Und dieser Auffassung entspricht es auch, daß er mit Vorliebe Landschaften
gemalt hat, denn nur sie geben ein Abbild jenes erhabenen Stimmungswechsels in
der Natur. Die Seele in der Natur zu malen, nicht die zufällige Form, ist das
Problem des großen Tangmeisters geworden.
Keine objektive Wahrheit soll angestrebt, sondern ein subjektiver Eindruck
des Gesehenen wiedergegeben werden. ‚Menschen, die weit in der Ferne sind,
haben keine Augen, Bäume keine Blätter, Berge keine einzelnen Felsen, Wasser keine
Wellen, aber steigen auf und berühren die Wolken.“ ‚Bei Regen ist Himmel und
Erde nicht zu unterscheiden.“ ‚Ist Wind ohne Regen, so sind nur die Äste (nicht
die Blätter) zu sehen.“ „Wenn Regen ist ohne Wind, so wird die Krone der Bäume
herabgedrückt.“ Uns erscheinen diese Angaben Wang Wei’s selbstverständlich, so
daß uns ihre Niederschrift mindestens unnötig vorkommt; aber wenn wir uns der
Kunstgesetze des 5. Jahrhunderts (S. 112) erinnern, so werden wir verstehen, daß
Wang Wei ein „Sezessionist‘ war, der den alten Gesetzen der Akademiker zum Trotz
nicht nur den „Rhythmus des einzelnen Objektes“, also des Dinges an sich, sondern
vor allem das, was er persönlich erlebte, die sichtbare Wirkung des Objektes,
wiedergeben wollte.
Zusammenfassung
Kein Original der berühmten Tangmeister ist mit Sicher-
heiterhalten,aberihren „modernen“ Geist konnten wir kennen
lernen und die erste Blüte der chinesisch-nationalen Kunst
ahnen, aufderen Grundlagen sichdie klassische Kunst der Sung-
zeit entwickeln konnte. Die Darstellung war an die Form und
Farbe der Natur gebunden, und die Ausführung geschah in
anmutiger und eleganter Weise.
Wu Taotze verstand in vollendeter Harmonie mit der
äußeren Form auch eine innere Belebung zu verbinden, und
Wang Wei gründete die Schule der romantischen Landschafts-
malerei. Die materielle Wahrheit in der Natur begann über-
tönt und verklärt zu werden durch die Stimmungsmalerei
der Poesie, durch das Erfassen der Seele in der Natur und
in ihren Geschöpfen.